Neues aus der Wissenschaft: Ästhetische Ausschläge

Nr. 12 –

Vom Betrachten des Betrachters beim Betrachten: Was in den Sozialwissenschaften als «Luhmann’sches Prinzip» bekannt ist, wollen die Naturwissenschaften auch quantitativ fassen, also vermessen. Und so schaute ein deutsches Forschungsteam Student:innen beim Anschauen von Kunstwerken ins Gehirn, um den Akt der Kunstrezeption besser zu verstehen.

Die Freiwilligen – vierzehn Männer und siebzehn Frauen – bekamen dazu eine Elektrodenhaube aufgesetzt, die Spannungsschwankungen im Gehirn in einem EEG aufzeichnet. Auf dem Computerbildschirm vor ihnen erschien jeweils für sechs Sekunden ein Gemälde, danach hatten sie fünf Sekunden Zeit, um mit einem Regler das Ausmass ihrer «ästhetischen Berührtheit» anzugeben. Die Bilder stammten von wenig bekannten Maler:innen aus verschiedenen Epochen und Kulturen.

Und interessant: Wie der Vergleich zwischen den individuell kalibrierten Kunstbewertungen und den Hirnströmen zeigt, steigen hochfrequente Gammawellen mit zunehmendem Gefallen an. (Aber auch interessant: Sie tun dies auch, wenn das Gemälde missfällt.) Am interessantesten fanden die Forschenden indes, dass diese Wellen erst nach einer Sekunde des Betrachtens auftraten. Denn das führte sie auf die Spur der (für sie offenbar revolutionären) Erkenntnis: «Kunstrezeption ist ein aktiver Prozess!» Die Hirnwellen spiegeln dabei den «Prozess der Bedeutungsbildung» wider – oder wie es ein Studienautor ausdrückt: «Wir nehmen Kunst offensichtlich nicht nur passiv wahr, sondern lassen uns auf einen Prozess der Entdeckung ein. Dabei probieren wir verschiedene Interpretationen und Bedeutungen aus.»

Wie schön, dass wir endlich wissen, weshalb Menschen seit Tausenden von Jahren Bibliotheken mit kunst-, kulturwissenschaftlichen und philosophischen Werken füllen. Und bitte kein geringschätziges Grinsen jetzt, liebe Geisteswissenschaftler:innen, zeigen uns die Gammawellen doch auch, «warum Menschen Freude daran haben, ihrer Umgebung einen Sinn zu verleihen».

Über die Konzeptualisierung ihres Forschungsfelds bestehe «noch wenig Einigkeit», heisst es auf der Website des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik.