Japanisches Kino: Innere Erdbeben mit minimalen Mitteln
Nach «Drive My Car» kommt mit «Wheel of Fortune and Fantasy» schon das nächste Werk von Ryusuke Hamaguchi ins Kino. Was macht die Filme des japanischen Regisseurs so besonders?
In der ersten Stunde von Ryusuke Hamaguchis über fünfstündigem Film «Happy Hour» will ein Künstler den Teilnehmer:innen eines Workshops dabei helfen, ein neues Gleichgewicht zu finden. Was er darunter versteht, zeigt er anhand eines Freischwingerstuhls, den er scheinbar mühelos auf einer der Vorderkanten zum Balancieren bringt. Nach dem grossen Erdbeben von Tohoku hatte er so Trümmergut in Positionen gebracht, die dem erschütterten Zustand besser entsprechen sollten. Jetzt will er dasselbe mit Menschen tun. In verschiedenen Übungen sollen sich jeweils zwei, drei oder mehr Teilnehmer:innen einander gegenüber aufstellen und sich gemäss dem «Zentrum» der anderen ausrichten. Einige belächeln zwar die Esoterik des Unterfangens, aber der Künstler ist mit solchem Ernst bei der Sache, dass sich alle die bestmögliche Mühe geben. Später, beim gemeinsamen Barbesuch, sind sich alle darüber einig, dass etwas in ihrem Innern verschoben wurde.
Sprache stiftet Ordnung
Die Sequenz aus Hamaguchis erstem Spielfilm bietet sich gut für einen Erklärungsversuch dafür an, was das Kino des soeben oscarprämierten Japaners so einnehmend macht. Seine Filme – es sind bisher deren vier – bestehen alle zu grossen Teilen aus längeren Dialogsituationen. Dabei gelingt es Hamaguchi irgendwie, diese klassischste aller dramatischen Situationen auf eine Weise zu inszenieren, die neu wirkt und gleichzeitig den gleichsam spirituellen Ursprung des sprachlichen Austauschs zwischen Menschen freizulegen vermag. Gemeinsam mit seinen Schauspieler:innen schafft es Hamaguchi in diesen Dialogen immer wieder, zum innersten Zentrum einer Figur vorzudringen, um dieses im Dialog oder in der Konfrontation mit anderen Figuren sanft in die eine oder andere Richtung zu verschieben – mit einer Wirkung irgendwo zwischen unmerklich und Katharsis. Das Besondere und vielleicht auch Unerwartete daran ist, dass es ihm in den meisten Fällen gelingt, das Publikum zu einem Teil dieser Anordnung zu machen, sodass sich der Schwerpunkt schliesslich irgendwo im diffusen Bereich zwischen inszeniertem Raum, der Leinwand und dem nicht mehr unbeteiligten Körper der Zuschauer:innen neu etabliert.
Eine weitere Charakterisierung von Hamaguchis Stil lässt sich aus der Beschreibung des Fahrstils von Misaki herausschälen, der Fahrerin in seinem Meisterwerk «Drive My Car» nach der gleichnamigen Kurzgeschichte von Haruki Murakami. Dieser wäre mit Worten wie «zurückhaltend» oder «minimalistisch» nur unzureichend umschrieben: «Sie schaltete geschmeidig, und ohne dass es je einen Ruck gab. Sie schien sich zu bemühen, die Drehzahl des Motors konstant zu halten. Er sah es an ihrem Blick, wenn sie schaltete, aber schloss er die Augen, bemerkte er es kaum. Er hörte es allenfalls an den veränderten Geräuschen des Motors. Wenn sie bremste oder beschleunigte, geschah es ebenfalls weich und konzentriert.»
Schmucklose Melancholie
Auch wenn Hamaguchis Stil von der Antiästhetik eines Hong Sang-soo weit entfernt ist: Die Beschreibung «schmucklos» trifft durchaus zu, wenn weder Kamera, Schnitt oder Farbgebung noch die Musik auf eine Weise auf sich aufmerksam machen, wie man das mittlerweile vom international erfolgreichen asiatischen Kino erwartet. Von mangelnder Sorgfalt kann dabei keine Rede sein – im Gegenteil. Jemand hatte mal zu Jean Eustache und dessen Meisterwerk «La Maman et la Putain» von 1973 bemerkt, dass nichts schwieriger sei, als einen Film so wirken zu lassen, als ob dahinter kein Aufwand stecken würde. Das lässt sich eins zu eins auf die Filme Hamaguchis übertragen, dessen dialogbasiertes Kino auch sonst an jenes des melancholischen Franzosen erinnert.
Nach «Drive My Car» bietet sich jetzt anhand von Hamaguchis zweitem Film von 2021 die Gelegenheit, sich – zumindest bezüglich Spieldauer – etwas niederschwelliger von den Qualitäten des Japaners überzeugen zu lassen. Wenn «Drive My Car» mit seinen multilingualen Tschechow-Sprechproben gute Argumente dafür geliefert hat, dass es bei Hamaguchi zweitrangig ist, in welcher Sprache seine Figuren zu ihrem Innersten vordringen, machen die drei Kurzgeschichten von «Wheel of Fortune and Fantasy» jetzt deutlich, dass eine Erzählung von Hamaguchi auch nicht unbedingt immer drei oder mehr Stunden braucht, um ihre besondere Wirkung zu entfalten.
Jede der drei voneinander losgelösten Episoden handelt im Kern von einer Begegnung, über deren Natur hier Details preiszugeben schade wäre. Aber egal, ob es spontane, überraschende oder versehentliche Begegnungen sind oder ob ihnen gar böswillige Absichten zugrunde liegen: Jede dringt in solch kurzer Zeit und mit solch reduzierten Mitteln so tief ins Innenleben der soeben noch unbekannten Figuren ein, um dort mit fast tektonischer Kraft an den Fundamenten zu rütteln, dass es in allen drei Fällen einem kleinen ästhetischen Schock gleichkommt. Und sofern man als Zuschauer:in auch noch den eigenen seelischen Mittelpunkt entsprechend Hamaguchis Anordnung ausgerichtet hat, bekommt man die Erschütterungen im besten Fall auch am eigenen Leib zu spüren.
«Wheel of Fortune and Fantasy» startet am 7. April 2022, «Drive My Car» läuft weiterhin in ausgewählten Kinos.
Wheel of Fortune and Fantasy. Regie: Ryusuke Hamaguchi. Japan 2021
Drive My Car. Regie: Ryusuke Hamaguchi. Japan 2021