Sanktionen gegen Russland: Tauschen wie in den alten Zeiten
Die aktuelle Situation sei weitaus schlimmer als die in den neunziger Jahren, warnen russische Wirtschaftsexpert:innen. Wie lange werden Durchhalteparolen in der Bevölkerung noch Gehör finden?
Buchweizen und Zucker verschwanden als Erste aus den russischen Supermarktregalen. Und auch diverse Medikamente wurden schnell zu enorm begehrten Gütern. Dabei handelte es sich erst einmal gar nicht um die ökonomischen Folgen der weitreichenden Sanktionen, die die USA und die Europäische Union kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs erlassen hatten. Denn Panikkäufe begleiten in Russland fast alle weltpolitischen Krisen, wenn der Rubel ins Bodenlose abzustürzen droht. Bei den Älteren erwacht die Erinnerung an Lebensgewohnheiten zu Sowjetzeiten, als das Horten von Mangelware zum Alltag gehörte. Sechs Wochen nach Kriegsbeginn und der ersten Panik gibt es in den Supermärkten der Grossstädte zwar keine Versorgungslücken mehr, dafür jedoch teilweise eklatante Preissteigerungen.
Die russische Regierung hat schnell erkannt, worauf es ankommt, um die Gemüter nach dem ersten Sanktionsschrecken zu beruhigen: Die Landeswährung muss als zentrales Symbol für die Durchhaltekraft stabilisiert werden. Nachdem der Rubel innert kürzester Zeit rekordverdächtig an Wert verloren hatte, erholte er sich nach der Wiedereröffnung der Moskauer Aktienbörse am 28. März. Einen Monat hatte der Wertpapierhandel brachgelegen – so etwas hatte es in der Geschichte der Moskauer Börse noch nie gegeben. Auf Dauer wird die Zentralbank den Kurs jedoch kaum halten können. Darin gehen die meisten Wirtschaftsexpert:innen einig.
Da der legale Kauf von Devisen in Banken und Wechselstuben untersagt wurde und nur noch unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist, entstand prompt ein paralleler Tauschmarkt – die wilden Neunziger lassen grüssen. Nur musste man damals eine mit Dollar ausgestattete Person des Vertrauens im Umkreis offizieller Tauschstellen oder im Bekanntenkreis suchen, während heutzutage im Messengerdienst Telegram auf etlichen Kanälen Angebote zu finden sind. Oder man bekommt in der Moskauer Fussgängerzone Arbat eine Visitenkarte mit Telefonnummer zugesteckt.
Ikea, Zara, McDonald’s gehen fort
Ende Februar kündigten reihenweise internationale Konzerne wie Ikea oder Zara an, ihre Geschäfte in Russland einzustellen. Als besonders einschneidendes Ereignis nahmen viele die Schliessung der Fastfoodkette McDonald’s wahr, die im Januar 1990 ihre erste Filiale in Moskau eröffnet hatte. Aus dem Ausland betrachtet, mag das merkwürdig anmuten, aber in Russland steht sie für hohes Niveau und gleichbleibende Qualität. Im Übrigen macht der Handel gut ein Viertel des russischen Bruttoinlandsprodukts aus. Wer keine relativ kostengünstige Mode nach spanischer Machart mehr kaufen kann, sucht nicht unbedingt nach lokalen Alternativen. Jetzt ist Sparkurs angesagt.
Eine Umfrage unter Nutzer:innen des Moskauer Nahverkehrstickets Troika, mit dem in etlichen Läden und Cafés Rabatte gewährt werden, ergab, dass ein Drittel der Menschen im vergangenen Monat alltägliche Ausgaben reduziert haben. Gespart wurde insbesondere beim Kauf von Kleidung und Technik sowie durch den Verzicht auf Taxifahrten. Trotzdem bildeten sich vor der Schliessung der japanischen Textilkette Uniqlo lange Schlangen vor den Filialen, um noch schnell ein Trendschnäppchen zu ergattern, das auf unbestimmte Zeit nicht mehr zum Verkauf angeboten werden wird.
«In zwei, drei Monaten kommen die ganzen Marken zurück, dann erholt sich das Business wieder», sagt Eldar Kulajew* und stellt eine zweckoptimistische Haltung zur Schau, wie sie zurzeit nicht selten anzutreffen ist. Als Verwaltungsmanager ist er für die Vermietung von Büros in einem Gebäude der Moskauer Innenstadt zuständig. Angst um seinen Job hat er keine. Natalja Schwydkaja* hingegen, eine gut verdienende Mitarbeiterin in einem der Moskauer Transporthäfen, fühlt sich von den Sanktionen persönlich getroffen. Es gehe ihr weniger um die etwaigen finanziellen Einbussen, mit denen sie rechnet. Sie tue sich einfach schwer damit, dass sich der Westen von allen russischen Staatsangehörigen abwende, ob sie den Krieg unterstützten oder nicht.
Wladimir Putin hielt sie bis vor zehn oder fünfzehn Jahren noch für einen für die Demokratie offenen Staatsmann, heute sieht Schwydkaja das anders. Gerne würde sie nach zwei Jahren pandemiebedingter Grenzschliessungen mal wieder ihre Freundin in Westeuropa besuchen, aber die fehlenden Direktflugverbindungen machen so eine Reise zu einem logistischen und finanziellen Kraftakt. Andere wiederum finden sich gekränkt damit ab, dass es jetzt irgendwie ohne den Westen weitergehen muss. Denn nicht alle können und wollen emigrieren. Ob die Durchhalteparolen in weiten Teilen der Gesellschaft auch dann noch Anklang finden, wenn es zu ersten Entlassungswellen kommt, wird sich zeigen.
Katastrophale Auswirkungen
Unter denjenigen, die gleich in den ersten Tagen und Wochen das Land verliessen, sind auffallend viele IT-Spezialist:innen, die qua ihrer Profession generell einen hohen Mobilitätsgrad aufweisen. Diese Gruppe will die russische Regierung nicht verlieren, und sie erarbeitete deshalb rasch diverse Angebote wie beispielsweise eine dreijährige Befreiung von der Gewinnsteuer für russische IT-Unternehmen und einen mehrjährigen Aufschub behördlicher Kontrollen. Wehrpflichtige Experten mit Berufserfahrung sollen ausserdem vom Armeedienst befreit werden. Der IT-Gigant Yandex stellt sich darauf ein, die Zusammenarbeit mit seinem Personal auch über Ländergrenzen hinweg fortzusetzen.
Die Situation sei heute schlimmer als in den neunziger Jahren, hält Oleg Buklemischew, Leiter des Forschungszentrums für Wirtschaftspolitik an der Moskauer Universität MGU, fest. Denn aktuell setzen nicht nur ausländische Staaten, sondern auch Privatkonzerne Sanktionen um. So stellten etwa alle grossen Logistikunternehmen wie Maersk, UPS und Fedex ihre Lieferungen nach Russland ein – der Warenverkehr mit vielen Ländern wird dadurch faktisch unterbunden. Wegen der extremen Verteuerung von Baumaterialien legten bereits vierzig Prozent der Firmen laufende Bauprojekte auf Eis. Der Automobilhersteller Awtowas schickte wegen fehlender Ersatzteile aus Frankreich die Belegschaft in einen mehrwöchigen Urlaub – in der Hoffnung, in der Zwischenzeit Alternativen zu finden.
Die Moskauer Wirtschaftsexpertin Natalja Subarewitsch zeichnet ein katastrophales Bild der Sanktionsauswirkungen. Mangels eigener Produktion würden früher oder später existenzielle Defizite entstehen – von Mikrochips bis hin zu riesigen Turbinen für den Energiesektor. Die Erschliessung von arktischem Flüssiggas sei ohne Technologie aus dem westlichen Ausland gar nicht zu stemmen. «Auch China ist nur bedingt in der Lage, in die Bresche zu springen», sagt Subarewitsch. Eine sich verstärkende technologische Rückständigkeit Russlands sei entsprechend unausweichlich. Detaillierte Prognosen will sie trotzdem nicht abgeben. Denn um Tempo, Ausmass oder Richtung der weiteren Entwicklung anzugeben, benötigt sie konkrete Daten. So könnten theoretisch bei der Herstellung von Eisenbahnwaggons sowjetische Produktionsweisen wiederbelebt werden. Allerdings hat wohl so mancher Betrieb die alten Konstruktionsskizzen längst entsorgt.
* Name geändert.