Die Bewegung in Grossbritannien: Jeden zweiten Tag eine Blockade

Nr. 15 –

Mit zivilem Ungehorsam kämpfen auch in London Aktivist:innen für besser isolierte Gebäude und einen Ausstieg aus der Ölindustrie. Einer von ihnen ist der 48-jährige James Thomas, der für seine Überzeugung Haftstrafen in Kauf nimmt.

Bis die Tankstellen nicht mehr beliefert werden können: Die Kampagne «Just Stop Oil», hier bei der Blockade eines Depots in Hertfordshire, zielt auf die Ölindustrie ab. Foto: Sipa, Alamy

Vor vielen Jahren, als James Thomas noch ein junger Mann war, hatte er überhaupt nichts am Hut mit Aktivist:innen. «Damals hätte ich gesagt: Das sind ein Haufen langhaariger Hippies mit John-Lennon-Brillen», sagt er. Heute sitzt er da, 48 Jahre alt, seine langen Haare zu einem zerzausten Pferdeschwanz gebunden, und auf seiner Nase sitzt eine Drahtbrille, die ganz so aussieht wie jene von John Lennon. Mittlerweile ist Thomas ein altgedienter Aktivist der britischen Klimabewegung. Er ist auf unzähligen Demos gewesen, er hat Plätze, Brücken und Autobahnen besetzt, er ist mehr als einmal verhaftet worden, und er hat soeben eine Gefängnisstrafe hinter sich gebracht.

Im Herbst 2021 war er Teil einer kurzen, aber aufsehenerregenden Kampagne, die drei Monate lang Schlagzeilen gemacht und ganz nebenbei die Regierung zur Weissglut getrieben hat. Insulate Britain heisst sie und hat ein Ziel, das auf den ersten Blick eher technisch scheint: Die Aktivist:innen wollen die Regierung dazu bringen, ein breit angelegtes Programm für die Isolation von Gebäuden einzuführen. Alle Sozialwohnungen sollen bis 2025 neu isoliert werden, und bis 2030 muss der Rest der Häuser auf staatliche Kosten so renoviert werden, dass sie nur noch ein Minimum an Energie verbrauchen – so lauten die Forderungen von Insulate Britain.

Vom Film «Suffragette» inspiriert

Die Aktivist:innen haben schlagende Argumente auf ihrer Seite. Der Hausbestand in Grossbritannien ist viel älter als der europäische Durchschnitt – fast 38 Prozent der Wohnhäuser wurden vor 1946 gebaut. Das bedeutet unter anderem, dass die Gebäude schlecht isoliert sind. Laut einer neuen Studie, für die 80 000 Häuser in elf west- und nordeuropäischen Ländern untersucht wurden, sind die britischen Gebäude undichter als alle anderen: Während die Temperatur in einem deutschen Haus über einen Zeitraum von fünf Stunden um ein Grad fiel, waren es in Grossbritannien drei Grad – eine riesige Energieverschwendung. «Die Qualität unserer Gebäude zu verbessern, ist unerlässlich, um die Ziele der britischen Regierung bezüglich Klimawandel und durch hohe Energiepreise verursachte Armut zu erreichen», schreibt Insulate Britain auf seiner Website.

Als James Thomas von der Kampagne hörte, war er sofort mit Begeisterung dabei. Er war einige Jahre zuvor über Extinction Rebellion (XR) zur Klimabewegung gestossen, nachdem er sich zunehmend intensiv mit der Klimakrise auseinandergesetzt hatte. Das Thema Umwelt sei immer in seinem Hinterkopf gewesen, erzählt er, auch als er noch Vollzeit als Architekt gearbeitet und sich als «aufgeklärter Kapitalist» verstanden habe. Als die Klimakrise immer schlimmer wurde, begann er ein Studium in Umweltökonomie und Klimawandel, um Antworten zu finden. Das sei jedoch eine ernüchternde Erfahrung gewesen: «Ich kam zum Schluss, dass sich die Krise nicht über wirtschaftspolitische Anpassungen bekämpfen lässt.»

Etwa zur selben Zeit schaute er sich den Film «Suffragette» (2015) an über die britischen Frauenrechtlerinnen, die im frühen 20. Jahrhundert mit direkten Protestaktionen für ihr Stimmrecht gekämpft hatten. «Ich dachte: Wieso gibt es nicht so etwas für die Umwelt?», sagt Thomas. «Und dann, wie durch Zufall, kam wenige Monate später XR.» Er stürzte sich mit Enthusiasmus in die Sache. Für die grossen Proteste im Frühling 2019 beschaffte sich Thomas ein Boot, bemalte es pink und fuhr damit im Oxford Circus auf, der Kreuzung im Zentrum Londons, die die Aktivist:innen fast eine Woche lang besetzt hielten.

Im September 2021, nach eineinhalb Jahren Pandemie, befand sich die Protestbewegung in einer Flaute. «Aber dann hörte ich von Insulate Britain», sagt Thomas. «Die architektonische und ökonomische Dimension sowie der Aktivismus überzeugten mich sofort, und ich zögerte keine Minute.» Um die Regierung dazu zu bringen, ihre Forderung zu erfüllen, zielte Insulate Britain auf eine Störung des Autoverkehrs ab. Insbesondere nahmen sie die M25 ins Visier, die Ringautobahn, die sich rund um den Grossraum London zieht.

«Unser Ziel war es, die Autobahn lahmzulegen», sagt Thomas. «Wir hatten in der Regel sechs einzelne Teams entlang der Ringstrasse im Einsatz, mit je zehn bis zwanzig Aktivisten.» Sie warteten an grossen Kreuzungen, bis die Ampeln rot waren, dann marschierten sie auf die Fahrbahn und setzten sich mit ihren Spruchbändern hin, manche leimten ihre Hände mit Sekundenkleber an den Boden. An jedem zweiten Tag zogen sie solche Blockaden auf, jede Woche von Mitte September bis Ende November 2021.

Wenig überraschend sorgte das für erhitzte Gemüter: wutentbrannte Autofahrer:innen, die Protestierende wegzerren; eine Frau in einem SUV, die mit ihrem dicken Gefährt eine sitzende Aktivistin schubst; Passant:innen, die die Fahrer:innen aufmuntern, einfach aufs Gaspedal zu treten. In einer Umfrage Anfang Oktober sagten über siebzig Prozent der Öffentlichkeit, dass die Aktionen von Insulate Britain nichts dazu beitragen würden, ihre Ziele zu erreichen – dass sie sogar ihrem eigenen Anliegen schadeten.

Anerkennung im Gefängnis

Das sieht James Thomas ganz anders. «Wir sind uns bewusst, dass wir Leute auf kurze Sicht gegen uns aufgebracht haben, und wir bedauern das», sagt er. Dennoch ist er fest überzeugt, dass die Proteste richtig waren. «Auf jeden Fall haben wir der Kampagne zur Isolation unserer Gebäude weit mehr geholfen, als dass wir Leute vergrault haben», sagt er. Vor allem die mediale Aufmerksamkeit, die Insulate Britain generiert hat, hat das Problem der hoffnungslos energieineffizienten britischen Häuser zu einem nationalen Gesprächsthema gemacht. «Heute sagen konservative Medien, Politiker und Kommentatoren, dass wir ein grösseres Programm brauchen, um unsere Häuser zu isolieren. Sie würden uns natürlich überhaupt kein Verdienst zuschreiben, aber es besteht für mich kein Zweifel, dass wir einen wichtigen Teil dazu beigetragen haben, diese Konversation anzustossen.»

Thomas verweist zudem auf frühere Erfahrungen mit direkten Protestaktionen. «Ziviler Ungehorsam verursacht immer gewisse Probleme für die breitere Öffentlichkeit. Und oft funktionieren die Proteste nicht – aber manchmal eben schon. Und gerade weil sie manchmal funktionieren, musste ich es zumindest versuchen, nicht zuletzt, weil die Klimakrise so ernst ist.» Aber er und viele andere Aktivist:innen zahlen einen hohen Preis.

Innenministerin Priti Patel hat einen richtigen Hass auf Klimabewegungen – sie bezeichnete die Aktivist:innen von XR einmal als «Ökokreuzritter, die zu Verbrechern geworden sind». Nach Beginn der Autobahnblockaden versuchte sie zunächst, das Gesetz zu verschärfen: Sich irgendwo anzukleben oder anzuketten, sollte zum Straftatbestand erklärt werden, der mit Gefängnis bestraft würde. Die drakonische Massnahme stiess jedoch selbst viele Tories vor den Kopf und wurde schliesslich vom Oberhaus zurückgewiesen. Eine andere Massnahme des Innenministeriums war hingegen erfolgreich: Patel erwirkte eine gerichtliche Verfügung, gemäss der die Protestierenden keine Autobahnen mehr blockieren durften. Freilich taten sie es trotzdem, und so wurden neun Aktivist:innen zu Gefängnisstrafen verurteilt, darunter James Thomas.

Sein zweimonatiger Aufenthalt in der Strafanstalt Thameside sei verhältnismässig glimpflich verlaufen. «Es gab wenig Schlägereien in meinem Trakt, und ich hatte das Glück, dass mein Zellengenosse in Ordnung war», sagt er. In Gesprächen mit anderen Insassen wurde ihm auch überraschend viel Zustimmung für seinen Aktivismus zuteil. «Ich traf keinen einzigen Häftling, der unsere Proteste verurteilte, sie zeigten vielmehr Anerkennung.» Dabei stiess er auf eine paradoxe Haltung: «Viele sagten mir: ‹Ich finds gut, dass du dich mit der Staatsmacht angelegt hast, aber wenn du mein Auto blockiert hättest, wäre ich ausgestiegen und hätte dir eine reingehauen.› Das finde ich köstlich.» Er interpretiert das so: «Im Eifer des Gefechts spüren sie Wut, aber im Nachhinein denken sie: Die hatten wohl nicht ganz unrecht.»

«Ist die Klimakrise vorbei?»

Er habe es keineswegs eilig, zurück ins Gefängnis zu gehen. Aber genau das könnte schon bald wieder passieren: Die Gerichtsverfahren gegen Thomas und andere Aktivist:innen haben erst begonnen – die Anklage lautet auf «Blockade einer Schnellstrasse» und «öffentliches Ärgernis» und ist unabhängig von der früheren Verurteilung wegen Missachtung der gerichtlichen Verfügung. Laut Insulate Britain sind 117 Aktivist:innen angeklagt, das Verfahren begann letzte Woche.

Die Frage, ob er alles erneut machen würde, beantwortet Thomas mit einer Gegenfrage: «Ist die Klimakrise vorbei?» Er sieht die Zukunft wenig optimistisch: «Der Staat und ich befinden uns auf Kollisionskurs. Die Klimakrise verschlimmert sich, und der Staat geht schärfer gegen Klimaproteste vor. Ich muss mich wohl damit abfinden, dass ich irgendwann wieder im Gefängnis landen werde.»

Vorerst haben die Aktivist:innen von Insulate Britain eine Pause eingelegt. Aber die Protestbewegung fürs Klima ist so aktiv wie eh und je. Vor wenigen Monaten wurde eine neue Kampagne gegründet, sie nennt sich Just Stop Oil und zielt auf die Ölindustrie ab. Zunächst versuchte sie, Aufmerksamkeit zu erregen, indem Protestierende während Fussballspielen auf den Platz rannten und sich an den Torpfosten festmachten. Dann begannen sie, die Ölindustrie gezielter ins Visier zu nehmen: In der ersten Aprilwoche blockierte Just Stop Oil mehrere Ölraffinerien und Exportterminals in Südengland. Über hundert Aktivist:innen wurden in den ersten zwei Tagen verhaftet. Aber das machte offensichtlich wenig Eindruck, die Kampagne ging munter weiter. Seither haben sich Dutzende weitere Protestierende zu den Ölterminals geschlichen, sie sind auf Tanker geklettert und haben sich mit Leim und Schlössern an Rohren festgemacht. Anfang Woche meldete die Presse, dass mehrere Tankstellen schliessen mussten, weil der Nachschub an Benzin stockte.