Demenz im Kino: Ein Labyrinth, vom Ende her betrachtet

Nr. 16 –

Filme über Alzheimer haben wiederholt Stars zu Oscars verholfen. Doch die Krankheit verleitet auch zu beeindruckenden Spielereien mit Zeit, Raum und Erinnerung. Gaspar Noés «Vortex» wirft allerdings mehr Fragen auf, als er beantworten kann.

Letzte gemeinsame Momente: Mit dem Fortschreiten der Krankheit strebt das Ehepaar (Dario Argento und Françoise Lebrun) in «Vortex» zunehmend getrennt dem Tod entgegen. STILL: RAPID EYE MOVIES

Die Erinnerung ist per se schon kein stabiler Raum, und ihre Zeit keine lineare. Mit Krankheiten, die das Gedächtnis angreifen, verhält es sich wie mit einem düsteren Traum, aus dem es kein Aufwachen mehr gibt. Das Kino, dieses Medium für Empathie und Manipulationen von Zeit und Raum, ist deshalb eigentlich die beste Maschine dafür, die Erinnerung wie auch ihr Verschwinden darzustellen.

Bei der Darstellung realer Krankheiten stellen sich immer auch moralästhetische Fragen. Es ist möglich, einen Film über Alzheimer zu machen, der dem Rechnung trägt und der gleichzeitig innovative Formen verwendet, um die Grenzverwischungen zwischen Traum, Realität und Erinnerung filmisch darzustellen. Nicht gemeint sind damit Filme wie «Still Alice» (2014), die in der Krankheit vor allem eine Gelegenheit für ein aufklärerisches Melodrama sehen und dazu der Darstellerin der erkrankten Protagonistin eine Möglichkeit bieten, schauspielerisch zu brillieren. Das emotional effektive Drama mit Julianne Moore und Kristen Stewart soll damit nicht abgewertet werden – es dient hier bloss als Beispiel für eine bestimmte Darstellung der Alzheimerkrankheit, die keine filmsprachlichen und nur wenig moralische Risiken eingeht.

Es geht ums Grundsätzliche

Wenn hingegen jemand wie Gaspar Noé einen Film über Alzheimer dreht, wird die Sache komplexer. Dabei ist wahrscheinlich bereits die Aussage falsch, dass es sich bei «Vortex» um einen Film über Alzheimer handelt, denn für solch weltliche Probleme schien sich der Regisseur von «Enter the Void» noch nie zu interessieren. Bei Noé ging es schon immer ausschliesslich ums Grundsätzliche, was in seinem Fall bedeutet: um den Tod und dessen Unausweichlichkeit.

Kein filmformales Mittel ist dem argentinisch-französischen Regisseur dabei zu schade, um sein Publikum mit der Vergänglichkeit allen Glücks zu konfrontieren – am drastischsten und unangenehmsten wohl in seinem rückwärts erzählten, nihilistischen Vergewaltigungs-Rache-Drama «Irréversible» (2002), wo am Ende der emotional zermürbten Zuschauerin der Satz «Die Zeit zerstört alles» stroboskopisch unsubtil in die Netzhaut gehämmert wird. Später wurden seine Methoden etwas ausgefeilter, und dem von einer Tanzperformance ausgehenden «Climax» (2018) lässt sich sogar so etwas wie Lebensfreude unterstellen, die bei Noé allerdings nicht ohne psychedelisch veranlagte Massenpsychose samt Rassismus, Sexismus und toten Kindern zu haben ist.

Mit «Vortex» sei er jetzt endgültig erwachsen geworden, heisst es, geläutert sogar. Eine Hirnblutung habe ihn unmittelbar mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Tatsächlich ist der grösstenteils improvisierte Film im Vergleich zu den vorangegangenen Werken vergleichsweise ruhig. Trotzdem ist eine gewisse Skepsis angebracht, wenn es jetzt heisst, dass «Vortex» eine feinsinnige Auseinandersetzung mit dem Altwerden und der Krankheit sei. Gaspar Noé hat sich mit seiner Filmografie einiges verdient, gewiss aber nicht einen Ruf als sensibler oder gar menschenfreundlicher Filmemacher. Ein allzu grosser Vertrauensvorschuss ist bei jemandem wie Noé nicht angebracht. Und wer diesen Film für seine Version von Michael Hanekes «Amour» hält, ist womöglich schon in die Falle getappt.

So originell wie bestürzend

Das heisst jetzt keinesfalls, dass «Vortex» ein schlechter Film wäre, und noch weniger, dass er seine Message nicht effektiv vermitteln würde. Das – buchstäblich – zentrale ästhetische Konstrukt des Films ist ein schwarzer Balken, mit dem Noé das betagte, dem Tod entgegenstrebende Ehepaar (Dario Argento und Françoise Lebrun) im Film voneinander trennt. Fortan begleiten wir die beiden im Splitscreen, und das ist gleichermassen originell, anstrengend und emotional bestürzend.

Zweieinhalb Stunden lang folgen wir ihnen also gleichzeitig, aber separat durch ihre Pariser Wohnung. Diese ist ein Meisterstück der Ausstattung, von Büchern überwuchert, in ihrem labyrinthartigen Grundriss gleichsam eine Metapher für die Undurchdringlichkeit des Geistes, der im Falle der Frau hier langsam seiner Auslöschung anheimfällt. Wie ein grotesker Spinnenfaden schleicht sich also dieser schwarze Balken am Anfang des Films vom oberen Bildrand herab zwischen das Paar und nimmt den Tod, der noch länger auf sich warten lassen wird, bereits vorweg. (Eine andere Linie, später im Film, ist noch erbarmungsloser: Der drogensüchtige Sohn zeichnet sie als präzis-brutale Geste in den Raum, als Antwort auf die Frage, wie es seiner Mutter gehe: stumm, steil diagonal nach unten gerichtet.)

«Vortex» ist kein Film über die Liebe, sondern über den Tod, ein filmisches Memento mori. Gewidmet hat Noé den Film nicht allen, «deren Gehirn sich früher zersetzt hat als ihr Herz», sondern jenen, bei denen dies noch passieren wird. Der Ton und die Lautstärke der Botschaft mögen dem Thema angepasst sein und werden wahrscheinlich dazu beitragen, Noés Publikumsspektrum zu erweitern, aber die nihilistisch-misanthropische Grundhaltung ist jene von «Irréversible» geblieben. Und selbst wenn darin noch immer nichts grundsätzlich Verwerfliches zu sehen ist, stellt sich die Frage durchaus, ob Noés Darstellung einer sehr realen und traumatisierenden Krankheit unter diesen Vorzeichen angebracht ist.

Wenn man dieselbe Frage auch an Filme wie «Still Alice» richten kann, die in der Darstellung von persönlichkeitszerstörenden Krankheiten immer auch eine Chance auf flüchtige Schauspielpreise wittern, so ist das im Grundsatz doch ein anders gelagertes Problem. Wie man neben einer solchen – in Oscars gemessen ähnlich erfolgreichen – Vereinnahmung auch formale Risiken eingeht, das zeigt Florian Zellers «The Father» (2020), in dem Anthony Hopkins den titelgebenden, an Alzheimer erkrankten Vater spielt. Obwohl auch «The Father» von der aufmerksamkeitsheischenden Qualität des Schauspiels beherrscht wird: Was den Film so faszinierend macht, sind die subtilen Manipulationen von Zeit und Raum, mit denen das Wesen der Krankheit Alzheimer charakterisiert wird.

Düstere Gefühlsgeometrie

So untergräbt «The Father» schrittweise unser Vertrauen in die filmische Beständigkeit von Zeit und Raum, bis am Ende deutlich wird, dass unser Standpunkt nie ein objektiver war. Vielmehr haben wir uns von Anfang an in der Wahrnehmung des Kranken befunden, der sich von einem Moment kurz vor seinem Tod an die dargestellten Ereignisse zurückerinnert – auf eine Weise, die der Wahrnehmung der Krankheit in ihrem Endstadium entspricht. Zeit, Raum und sogar das Aussehen und die Identität der Bezugspersonen verlieren jegliche Konsistenz, was in der Kombination mit einer trügerisch klassischen Inszenierung die grausamen mentalen Auswirkungen der Krankheit umso eindringlicher vermittelt.

So gelingt es «The Father» – und das ist der zentrale Punkt –, durch reine filmische Konstruktion die Erfahrung der Krankheit ansatzweise nachfühlbar zu machen und so statt reinem Mitleid auch Empathie (im Sinne des Einfühlungsvermögens) für eine psychische Situation zu kreieren, bei der man diese eigentlich nicht für möglich gehalten hätte.

Wo die Gefühlsgeometrie in «Vortex» von brutalen Trennlinien und düsteren Abwärtsspiralen bestimmt wird, verweist sie in «The Father», mit dem finalen Blick aus dem Fenster hinaus, auf einen grünen Park. Und – etwas weniger originell – in «Still Alice» mit einem tröstlichen Dialog zwischen Mutter und Tochter auf einen Ausgang aus dem Labyrinth. Bei Gaspar Noé wartet am Ende des Tunnels: nichts.

Vortex. Regie und Drehbuch: Gaspar Noé. Frankreich 2021