Geflüchtet (7): Das Blut abwaschen

Nr. 24 –

Hallo an alle. Meine persönlichen Nachrichten sind gut. Nach neun Tagen Stille erfuhr ich, dass mein Sohn am Leben ist. Den Tag nach dieser Nachricht habe ich durchgeschlafen. Es war die Reaktion meines Nervensystems. Natürlich ist er immer noch dort, wo es keine Arzneimittel, keine Polizei, keine Kommunikationskanäle und keine Möglichkeit gibt, die besetzten Gebiete zu verlassen. Und er kann getötet werden, wenn gehört wird, dass er Ukrainisch spricht. Aber er ist am Leben. Mehr als hundert Tage sind seit dem 24. Februar vergangen. Ich habe seither zwölfmal den Wohnort gewechselt. Ich habe aufgehört, bei Explosionsgeräuschen zu zittern, werde aber nervös, wenn ich die russische Sprache höre.

Russland versucht erneut, uns und unsere Kultur und Identität zu zerstören. In den besetzten Städten wird Kindern, die die Raketenangriffe überlebt haben, Russisch beigebracht. Das haben wir schon einmal erlebt. Ausserdem haben sie damit begonnen, unsere Lieder ins Russische zu übersetzen und sie als ihre eigenen zu veröffentlichen. Auch das haben sie schon einmal gemacht.

Ich sehe in ihren Nachrichten, wie ihre Soldaten stolz Trolleybusse, Lebensmittel, Getreide und sogar Spielplätze aus ukrainischen Städten wegtransportieren und sagen, dass die Ukrainer:innen das nicht mehr brauchen. Na sicher. Weil sie sie getötet haben. Ermordeten Frauen werden Höschen und BHs abgenommen, getöteten Kindern das Spielzeug, und zu den eigenen Kindern und Frauen nach Hause geschickt. Einfach das Blut abwaschen, und schon kann man das selbst tragen oder damit spielen. Warum nicht. Die Welt ist jetzt mit Wirtschaftskrise, Hungersnöten und steigenden Preisen aufgrund des Krieges beschäftigt. Aber niemand hat es eilig, uns Waffen zu geben, damit wir das Leben unserer Kinder und unsere Identität und Kultur retten können.

Ich habe gehört, dass Ukrainer:innen gefragt werden, wofür sie kämpfen; man sagt, wir sollen aufhören, Widerstand zu leisten, und unser Land, unser Leben und unsere Freiheit der Russischen Föderation geben. Man empfiehlt, Putin die Möglichkeit zu geben, sein Gesicht zu wahren. Ich verstehe nicht, wie man darauf kommt. Wer das sagt, kann Putin selber ein bisschen von seinem Land geben oder aufhören, die Sprache seiner Eltern zu sprechen. Oder seine Kinder dem Tod und der Vergewaltigung ausliefern. Auch Untätigkeit und Schweigen helfen dem Mörder.

Die Drehbuchautorin und Theatermacherin Natalia Blok (41) lebt zurzeit in Basel. Übersetzt hat den Text die Autorin Julia Gonchar. Die Serie «Geflüchtet» wird vom Verein ProWOZ finanziert.