Geflüchtet (9): Das Beste und das Schlechteste in uns

Nr. 26 –

Es gab diese Woche zwei Ereignisse in meinem Leben, die mich sowohl sehr glücklich als auch sehr unglücklich machen. Das freudige Ereignis: Mein Sohn hat nach 120 Tagen das besetzte Gebiet endgültig verlassen! Die Reise dauerte zwei Tage, durch die Kontrollpunkte, mit Verhören in russischen Sonderbüros – ohne dass er mich kontaktierte. Ich war sehr besorgt. Aber jetzt ist er in Sicherheit, und ich kann es nicht glauben. Das ist ein enormes Glück. Der Feiertag meines Lebens.

Das zweite Ereignis ist traurig. Meiner Hündin helfen auch die Medikamente nicht mehr. Der Krebs hat gesiegt. Die ganze Woche sehe ich zu, wie sie allmählich stirbt. Glücklicherweise hat sie keine Schmerzen. Die Ärzt:innen sagten, wir hätten nur noch wenige Tage zusammen. Sie beschwert sich nicht. Leben und Tod gehen Hand in Hand. Und deshalb versteht man in solchen Zeiten deutlich die Zerbrechlichkeit des Lebens und seinen Wert.

Ich habe jetzt niemanden, mit dem ich die Freude über die Rettung meines Kindes und die Trauer über den Verlust meines Hundes teilen kann. Ich schreibe diese Buchstaben in einem fremden Land und sehe meine Lieben über das Display eines Smartphones. Ich vermisse Umarmungen und Gespräche in meiner Muttersprache. Gleichzeitig pulsiert mein Leben wie nie zuvor. Denn der Krieg macht alles klar und deutlich. Er verändert eine Person für immer und bringt die besten und die schlechtesten Eigenschaften in ihr ans Licht. Wir Ukrainer:innen haben so viel Liebe und Lebensdurst entdeckt, dass es für viele kommende Generationen ausreichen wird. Wir wissen jetzt, wer unsere Feinde und wer unsere Freunde sind, und wir sind überzeugt, dass auch ein riesiges Land wie das faschistische Russland uns nicht besiegen kann, weil wir zusammen so eine grosse Kraft sind.

Vielleicht kennen Sie den Spruch, dass Sie Ihre Komfortzone verlassen müssen, um erfolgreich zu sein. Mittlerweile haben vierzig Millionen Ukrainer:innen diese Zone verlassen. Wir alle kämpfen für unsere Freiheit. Ich glaube, wir werden gewinnen.

Unterdessen könnte jeder, der sich jetzt in der Ukraine aufhält, durch eine russische Bombe sterben. Deshalb müssen wir gerade jetzt noch über unsere Lieben reden und den Ukrainer:innen etwas Gutes tun. Solange noch Zeit ist. Denn möglicherweise ist das nicht lange der Fall.

Die Drehbuchautorin und Theatermacherin Natalia Blok (41) lebt zurzeit in Basel. Übersetzt hat den Text die Autorin Julia Gonchar. Die Serie «Geflüchtet» wird vom Verein ProWOZ finanziert.