Durch den Monat mit Nathalie Anderegg (Teil 2): Empfanden Sie die Diagnose als Erleichterung?
Als bei Nathalie Anderegg eine Psychose ausbrach, reiste sie für ein Jahr nach Marokko. Ihr zwölfjähriger Sohn blieb die ganze Zeit bei ihr – um sie zu beschützen, glaubt die Ethnologin.

WOZ: Nathalie Anderegg, in unserem letzten Gespräch sagten Sie, dass Sie sich bereits vor Ausbruch Ihrer Schizophrenie nicht wirklich stabil gefühlt hatten.
Nathalie Anderegg: Seit ich zehn oder elf Jahre alt war, hatte ich immer wieder mit Depressionen zu kämpfen. Aber damals, ich habe Jahrgang 1967, gab es nicht wirklich ein Bewusstsein für psychische Erkrankungen von Kindern.
Wann erhielten Sie erstmals fachliche Hilfe?
Die Depressionen kamen immer wieder in kürzeren oder längeren Phasen, bis ich mit 26 Jahren eine Fehlgeburt erlitt und eine derart ausgewachsene Depression hatte, dass ich zum ersten Mal in die Klinik kam und dort das grosse Glück hatte, schnell die für mich richtigen Medikamente zu erhalten. Heute muss ich – trotz meiner Kritik an Big Pharma – sagen: Die Antidepressiva haben mir auf längere Sicht das Leben gerettet.
Wie meinen Sie das?
Vom Leidensdruck her sind Depressionen zumindest in meiner Erfahrung viel schlimmer als eine Psychose. Bei einer Psychose ist immer etwas los, man ist unterwegs, es hat viele Reize. Aber eine Depression ist einfach eine innere Leere. Jeder Atemzug erfordert Anstrengung. Heute sind Depressionen zwar weniger stigmatisiert als andere psychische Erkrankungen, aber dieser Umgang hat auch eine Kehrseite: Verharmlosung. Viel zu oft heisst es: Nimm deine Antidepressiva, geh zwei Monate in eine Klinik, und dann kannst du wieder viel arbeiten und so viel leisten wie vorher! Das führt zum nächsten Zusammenbruch, wie ich das bei vielen Menschen gesehen und selbst erlebt habe.
Empfanden Sie die Diagnose als Erleichterung?
Ich hatte mich viele Jahre lang gefühlt wie ein Spiegel, der zerbrochen und nur notdürftig und falsch zusammengesetzt worden war. Und mit dieser Diagnose brach alles wieder auseinander. Aber ich bekam dann die Möglichkeit, den Scherbenhaufen langsam, aber besser und stabiler wieder zusammenzubauen. So absurd es klingt: Mir geht es seit der ersten Psychose besser als vorher. Wenigstens weiss ich jetzt, was mit mir los ist, und ich kann lernen, damit umzugehen.
Heute sprechen Sie sehr offen über Ihre Krankheit und die Folgen. Fiel es Ihnen von Anfang an so leicht, über Schizophrenie zu sprechen?
Ich habe erst kürzlich angefangen, mich zu outen. Ich wartete ab, bis mein Sohn achtzehn wurde, damit das Stigma nicht auch ihn belastete. Das Stigma besagt, dass man völlig gaga und unzurechnungsfähig ist. Jede Stadt, jedes Dorf kennt doch so eine Person, der alle aus dem Weg gehen, weil sie ganz offensichtlich «spinnt». Und entsprechend behalten viele Menschen mit Schizophrenie das Ganze für sich oder teilen es nur mit ihren Nächsten, obwohl ja auch das leider keine Garantie für Verständnis ist. Viele Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose machen leider die Erfahrung, dass zahlreiche Freundschaften und Beziehungen wegbrechen. Viele Menschen sind auch überfordert mit einer solchen Person im Umfeld, und gerade Psychosen lösen bei vielen irrationale Ängste aus – auch weil man zu wenig darüber weiss.
Wie geht Ihr Sohn mit Ihrer Erkrankung um? Sprechen Sie zwei oft darüber?
Nach meiner zweiten und bislang letzten Psychose kamen wir durch die Kesb zusammen in ein systemisches Familientherapieprogramm, in dem wir viel über die Zeit während der Psychose sprachen, was sicher geholfen hat. Mein Sohn war damals zwölf. Er hat alles hautnah miterlebt. Dort erfuhr ich, dass er sofort, gleich am Anfang der Psychose, bemerkt hatte, dass mit mir etwas gar nicht mehr stimmte – lange bevor jemand anderes es merkte. Ich fing damals an, laut mit den Stimmen in meinem Kopf zu sprechen.
Was geschah dann?
Die zweite Psychose war heftig. Ich hatte mir eingebildet, dass ich im Auftrag des marokkanischen Königs in das Land musste, um mit der Korruption aufzuräumen. Ich fühlte mich erleuchtet. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion packte ich meine Sachen, nahm meinen Sohn und flog nach Marokko, wo wir ein Jahr blieben. Ich hing in der Wahnvorstellung, ich sei eine Geheimagentin eines verborgenen internationalen Netzwerks, das die Welt retten werde. Mein Sohn hätte mehrmals die Möglichkeit gehabt, zu meinen Eltern oder zu seinem Vater zurück in die Schweiz zu fliegen, er blieb aber bei mir, sicher um mich zu beschützen. Ehrlich gesagt weiss ich bis heute nicht, wie er das durchgehalten hat. Der Psychologe, der ihn danach evaluiert hat, sagte, mein Sohn sei ein Musterbeispiel für Resilienz. Ich habe selbst schon versucht, Menschen in psychotischen Krisen zu begleiten. Mehr als ein paar Tage konnte ich das kräftemässig nicht aushalten. Vor unserer Rückkehr aus Marokko hatte ich grosse Angst, dass mein Sohn nicht mehr bei mir leben dürfe. Dank meiner Kooperationsbereitschaft mit der Therapie und meiner Krankheitseinsicht durfte ich ihn bei mir behalten. Die Kesb und die Familientherapie haben der ganzen Familie inklusive der Grosseltern sehr geholfen, wieder zur Normalität zurückzufinden.
Nächste Woche erzählt Nathalie Anderegg von ihren Erfahrungen als Ethnologin im Bereich transkultureller Psychiatrie und erklärt, warum sie sich entschlossen hat, einen Verein zu gründen.