Durch den Monat mit Nathalie Anderegg (Teil 4): Was tun die «Reporter:innen ohne Barrieren»?

Nr. 21 –

Nathalie Anderegg arbeitet bei Radio X in Basel und setzt sich für die journalistische Ausbildung von Menschen mit Behinderung ein. Wenn sie jemand nach ihrem Beruf fragt, hat sie aber noch eine ganze Menge anderes zu berichten.

Nathalie Anderegg: «Uns geht es auch darum, dass Menschen mit Behinderung in den Medien vertreten sind und etwas zu sagen haben, wenn über Themen berichtet wird, die sie betreffen.»

WOZ: Frau Anderegg, Sie sind bei «Reporter:innen ohne Barrieren» involviert. Worum geht es dabei?
Nathalie Anderegg: «Reporter:innen ohne Barrieren» ist ein Projekt des Dachverbands der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap, das vom Bund finanziert wird. Im Kern geht es darum, Menschen mit Handicap als Reporter:innen auszubilden. Das Ganze ist relativ neu, erst Ende 2020 hat es so richtig angefangen. Wir konnten uns seither bereits einige Male treffen und waren Anfang März auch als Reporter:innen an der nationalen Demo für Behindertenrechte in Bern unterwegs, um darüber zu berichten.

Und durch dieses Projekt wurden Sie dann zur Reporterin ausgebildet?
Nein, die geplanten Ausbildungen sind in diesem Rahmen noch nicht angelaufen, sollten jedoch bald beginnen. Bei den «Reporter:innen ohne Barrieren» gehöre ich zu jenen, die bereits eine Ausbildung haben. Durch das Basler Radio X konnte ich in der Spartenredaktion Radio loco-motivo, dem Radio von Menschen mit Psychiatrieerfahrung, ein On-the-Job-Training absolvieren. Durchgeführt wird dieses von der Radioschule Klipp und Klang, und es beinhaltet die Radiojournalismusausbildung inklusive diverser Audio- und Studiotechnikkurse. Die Ausbildung ist für Radioschaffende in den Spartenredaktionen kostenlos. Seither hört man mich regelmässig auf dem Sender.

Das Projekt «Reporter:innen ohne Barrieren» steht unter dem Motto «Nichts über uns ohne uns». Was ist damit gemeint?
Ein Fünftel aller Menschen in der Schweiz leben mit einer Behinderung. Doch die Arbeit in den Medien sowie auch in den zuständigen Behörden und in den Behindertenorganisationen – dort, wo man Statements zum Thema macht, Entscheidungen trifft und eine Öffentlichkeit erreicht – wird gar nicht oder nur zu einem kleinen Teil von diesen Menschen gemacht. Inklusion zu organisieren, aber sie nicht selbst vorzuleben, ist kritisch. Unser Projekt will das ändern.

Wie genau?
Zum einen soll es darum gehen, dass Menschen mit Behinderung in den Medien vertreten sind und etwas zu sagen haben, wenn über Themen berichtet wird, die sie betreffen. Zum anderen sollen Menschen mit Behinderung auch einfach in den Medienmarkt integriert werden und über alles berichten können, was sie interessiert, ohne Bezug auf die Behinderung zu nehmen.

Beim Begriff «Barrierefreiheit» denken viele wohl zuerst an Menschen mit physischen Einschränkungen, etwa bei der Mobilität. Inwiefern fühlen Sie sich als Person mit psychischer Erkrankungen davon angesprochen?
Vielleicht vorneweg: Den Ausdruck «behindert» mag ich persönlich nicht, man könnte eher «gehindert» sagen – denn wir werden daran gehindert, unser Potenzial zu entfalten und uns als ganze Menschen jenseits unseres Handicaps gesellschaftlich einzubringen.

Und zu Ihrer Frage: Ja, auch ich fühle mich zu hundert Prozent angesprochen. Für mich persönlich geht es beim Thema «Barrierefreiheit» um unsere Stellung innerhalb der Gesellschaft als Ganzes und in der Arbeitswelt. In unserem Projekt sind Menschen mit allen möglichen Formen von Handicaps – kognitiv, psychisch und körperlich – involviert. Natürlich begegnen Menschen je nach Handicap anderen Hindernissen, erleben unterschiedliche Ausgrenzungsmechanismen, Barrieren und Stigmata. Ein gutes Beispiel ist das Thema «IV und Arbeit»: Hier fällt sofort auf, wie unterschiedlich die gesellschaftlichen Abwertungsmechanismen bei psychischen und physischen Erkrankungen greifen.

Wie meinen Sie das?
Es ist immer noch ein riesiges gesellschaftliches Stigma, wenn man nicht im ersten Arbeitsmarkt arbeitet. Von vielen Menschen mit physischen beziehungsweise sichtbaren Handicaps wird angenommen, dass sie gar nicht arbeiten können, während es bei unsichtbaren, psychischen oder kognitiven Handicaps oft zu Abwertung kommt, man gilt als faul, unmotiviert oder gar als «Scheininvalide». Parteien wie die SVP befeuern diesen Diskurs mit ihren politischen Vorstössen immer wieder aktiv, indem sie manchen Menschen mit «unsichtbarem» Handicap unterstellen, vom Staat profitieren zu wollen. Ich kenne diese Situationen nur zu gut – wenn man etwa irgendwohin eingeladen wird und eine der ersten Fragen lautet: «Und du, was machst du beruflich?»

Und was antworten Sie dann?
Das ist vom Kontext, meiner Stimmung und der fragenden Person abhängig. Ich habe verschiedene Antworten auf Lager, ich mache ja auch viel. Oft gebe ich meine Freiwilligenarbeit als bezahlte Arbeit an. Ich bin Vereinsleiterin, arbeite am Radio, ich bin Ethnologin und Musikerin, schliesslich spiele ich zwei Instrumente und auch in Bands. Und wenn ich merke, dass mein Gegenüber sensibilisiert genug ist, kann ich auch mal sagen, dass ich eine IV-Rente beziehe. Jetzt, da ich geoutet bin, werde ich es wohl in Zukunft noch etwas direkter thematisieren.

Nathalie Anderegg wünscht sich, dass man irgendwann ohne Vorurteile und Stigmata über jede Form von Handicap sprechen kann. Fragen zu stellen und etwas verstehen zu wollen, sei in jedem Fall besser, als einfach Urteile zu fällen.