Durch den Monat mit Nathalie Anderegg (Teil 3): Wie kamen Sie zur Ethnologie?

Nr. 20 –

Nathalie Anderegg erklärt, wie ihr Verein «La Fontana» versucht, Menschen mit psychischer Erkrankung zu passenden Tagesstrukturangeboten zu verhelfen. Und wieso die transkulturelle Psychiatrie ein Feld ist, das auch die Religionswissenschaften tangiert.

«Ernst Herzigs unbeschönigte Beschreibungen des Ethnozids an den nordamerikanischen Indigenen haben mich erschüttert»: Nathalie Anderegg.

WOZ: Frau Anderegg, Ihr Verein «La Fontana» unterstützt Menschen mit psychischer Erkrankung. Wie sieht diese Arbeit aus?
Nathalie Anderegg: Wir suchen Finanzierungsmöglichkeiten für die Freizeitaktivitäten von betroffenen Menschen im Raum Basel. Mit bei Stiftungen beantragten Geldern unterstützen wir beispielsweise Malkurse, Musikunterricht oder auch Sport. Es gibt viele Menschen mit psychischen Erkrankungen, die nicht mehr berufstätig sind, die sich in den sozialpsychiatrischen Tagesstrukturangeboten nicht am richtigen Platz fühlen und viel lieber ihren eigenen Hobbys und Interessen nachgehen würden, aber nicht die finanziellen Möglichkeiten dazu haben.

Haben Sie selbst die gleichen Erfahrungen gemacht?
Ja, ich war in dieser Situation und habe probiert, finanzielle Unterstützung für Musikkurse zu finden. Die wenigen Stiftungen und Institutionen, bei denen man sich als Einzelperson melden kann, verlangen einen Haufen Papierkram, bis hin zu Bankauszügen. Das Misstrauen, das einem entgegenschlägt, ist sehr verletzend.

Vor Ausbruch Ihrer ersten Psychose hatten Sie als Ethnologin in verschiedenen Ländern geforscht. Wie sind Sie zur Ethnologie gekommen?
Über die Jugendbücher des Baslers Ernst Herzig alias Ernie Hearting bin ich bereits als Kind mit dem Schicksal der nordamerikanischen Indigenen in Kontakt gekommen. Auch wenn Herzig Romanautor war – seine unbeschönigten Beschreibungen des Ethnozids haben mich erschüttert. Diese Erfahrung war der Auslöser für mein Interesse an der Völkerkunde.

Welche Rolle spielt die psychische Gesundheit in der Ethnologie?
Mittlerweile spielt sie eine grosse Rolle. Vor allem der Umgang mit und der Status von Menschen mit psychischen Erkrankungen sind je nach Kultur sehr unterschiedlich. Nehmen wir die Lakota-Kultur Nordamerikas als Beispiel: Wenn dort jemand eine psychotische Episode erlebte, wurde das oft als Berufung zum spirituellen Heiler verstanden. In der Biografie des Lakota-Heilers Lame Deer lässt sich die entsprechende Erfahrung nachlesen. Sowohl bei den Lakota als auch bei Stämmen im Senegal und in der tibetischen Ladakh-Region gibt es Heiler:innen, die bei sich selbst eine Psychose initiieren, um in einen bestimmten Zustand zu gelangen. Zum Teil wird dafür mit Triggern wie Schlafentzug, Fasten, Hyperventilieren und Tanzen bis zur Trance oder mit psychogenen Substanzen wie etwa Nachtschattengewächsen gearbeitet.

Hier möchte ich eine dringende Warnung für Reisende aussprechen: Im schlimmsten Fall kann auch das passive Einatmen des Rauchs bei den Zuschauer:innen nicht nur ein kurzes High, sondern eine ausgewachsene Psychose auslösen.

Kommen wir noch einmal auf die Schamanen und Heilerinnen zurück. Sie sagen also, dass vieles, was übernatürlich scheint, eigentlich auf eine Psychose zurückzuführen ist?
So möchte ich das nicht ausdrücken. Ich stelle nur fest: Eine Psychose gleicht den Erfahrungen und Zuständen von Heiler:innen indigener Kulturen und Heiligen aus vielen Religionen, etwa Visionen, gewisse Formen von Hellsichtigkeit oder Erleuchtungen, Kontakte zu überirdischen Wesen oder Verstorbenen, die zu ihnen sprechen.

In unserem ersten Gespräch erzählten Sie, dass Sie in Kaschmir und in Marokko geforscht haben. Ging es dort auch um die Bezüge zwischen Ethnologie und psychischen Erkrankungen?
In Kaschmir hatte ich zu den Auswirkungen der Proxy-War-Situation, also des anhaltenden emotionalen Stresszustands in einer kriegsähnlichen Situation, auf die psychische Gesundheit der Menschen geforscht. Neben der transkulturellen Psychiatrie – das ist ein Sammelbegriff für alles, wo es um psychische Erkrankungen in anderen Kulturen geht – ist mein anderes Steckenpferd das Thema Steinzeit und menschliche Kulturen. Damit hatte ich mich in Marokko befasst.

Steinzeit? Ist das aus ethnologischer Sicht denn überhaupt interessant?
Und wie! Wir lernen in der Schule bis heute, dass die menschliche Zivilisation in der Kupfer- und Bronzezeit, also mit der Metallbearbeitung, ihren Anfang genommen hat. Mich interessiert, was davor war. Material und Werkzeug für den Alltag, den Bau von Hütten, für die Nahrungsbeschaffung oder auch zeremonielle Gegenstände kann man in der Natur finden. Metall braucht es dazu nicht.

Was wir also landläufig als Beginn der Zivilisation definieren, ist der Beginn der Metallbearbeitung – und diese zum primären Zweck des Schmiedens von Waffen, die stärker sein sollen als die Waffen, die eine andere menschliche Gruppe besitzt. Etwas zugespitzt ausgedrückt: Wir definieren den Beginn der menschlichen Zivilisation mit dem Beginn der Aufrüstung.

Auch wenn sie nicht mehr ethnologisch forscht: Über den Ethnozid an den nordamerikanischen Indigenen spricht Nathalie Anderegg immer wieder am Radio Loco-motivo. Nächste Woche berichtet sie von ihrem Projekt «Reporter:innen ohne Barrieren».