Kinder im Nothilferegime : Gebrochene Menschen

Nr. 19 –

Das Leben mit Nothilfe ist für Familien menschenunwürdig, darüber sind sich viele Fachleute einig. Trotzdem weigern sich Bund und Kantone, die Lage zu verbessern.

Abgewiesene Schutzsuchende werden isoliert und knapp gehalten und so zur Ausreise gedrängt: Asylzentrum in Embrach. Foto: Florian Bachmann

Sie ist seit zehn Monaten in der Schweiz. Sie lebt – zusammen mit ihrer dreizehnjährigen Tochter – in einem Rückkehrzentrum für abgewiesene Asylsuchende. Wenn Halice Altas* über ihren von Existenzängsten geprägten Alltag spricht, kann sie ihre Tränen nur schwer zurückhalten. «Ich verstehe einfach nicht, dass wir einen negativen Entscheid bekommen haben. Ich dachte, ich würde hier Arbeit finden, und alles wird gut», sagt sie. Lana*, die Tochter, sitzt stumm daneben, während die Mutter ihre Verzweif‌lung beschreibt.

Halice Altas und ihre Tochter Lana sind Kurdinnen. Sie lebten in der Autonomen Region Kurdistan im Irak, wo Altas als Journalistin arbeitete. Ihr Exmann habe sie mit dem Tod bedroht, erzählt sie. Ihre Tochter erfuhr das erste Mal mit neun Jahren sexuelle Übergriffe durch einen Nachbarn. Als ihr bei der Zeitung gekündigt wurde, wusste Altas, dass sie fortgehen musste. Zusammen mit der damals elfjährigen Lana reiste sie mit dem Bus und verschiedenen Mitfahrgelegenheiten nach Litauen. In Vilnius wurden die beiden zwar inklusive Fingerabdruck registriert, aber niemand fragte sie nach ihren Fluchtgründen. Sie fühlten sich alleingelassen, vergessen in einem Flüchtlingscamp. Schliesslich beschloss Altas, in die Schweiz weiterzureisen, in der Hoffnung, Arbeit zu finden und sich eine neue Existenz aufbauen zu können.

Halice Altas irrte sich. Der negative Bescheid kam sechs Wochen nach ihrer Ankunft: Das Bundesamt für Migration (SEM) trat auf ihr Asylgesuch nicht ein und ordnete die Rückreise nach Litauen an. Dass sie und ihre Tochter von dort gekommen waren, ergab die Abklärung in der zentralen Fingerabdruckdatenbank Eurodac. Der Datenabgleich verhindert, dass Personen in mehreren Dublin-Staaten Asylverfahren durchlaufen. «Ich war schockiert über den Entscheid der Schweizer Behörden», sagt Altas. Sie habe nicht damit gerechnet. «Ich dachte, ich könnte erzählen, was mir passiert ist, was meiner Tochter passiert ist.»

Ein krank machendes Regime

Fana Asefaw, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, war dabei, als Halice Altas der Negativentscheid überbracht wurde. Die von den sexuellen Übergriffen traumatisierte Tochter Lana ist Asefaws Patientin: «Es war ein echtes Drama, ich konnte die beiden fast nicht beruhigen», erzählt sie. Asefaw leitet das Kompetenzzentrum für Trauma und Migration in Winterthur und ist ärztliche Leiterin des Projekts «Junge Brückenbauer:innen» vom NCBI (National Coalition Building Institute Schweiz), wo junge Geflüchtete psychisch belastete Geflüchtete unterstützen. Sie sagt: «Viele meiner Patientinnen und Patienten, deren Asylgesuch abgelehnt wurde, sind gebrochene Menschen, sie fühlen sich wie Abschaum, sie sind nicht mehr sie selbst.» Und: Die Kinder, die sie betreue, seien oft suizidal. Als Ärztin könne sie viel zu wenig tun. Sie schreibe immer wieder Berichte und erläutere, dass das Nothilferegime menschenunwürdig sei, dass es die Kinder oft retraumatisiere und überhaupt krank mache. «Manchmal helfen diese Berichte. In der Zwischenzeit verordne ich Medikamente, um die Verzweiflung zu dämpfen und die Patientinnen zu stabilisieren.»

Seit dem negativen Entscheid leben Mutter und Tochter in Nothilfeunterkünften. Schon dreimal mussten sie umziehen, weil ihr Platz anderweitig gebraucht wurde. Aktuell leben sie in einem Rückkehrzentrum weitab vom nächsten Ort. Ein Bus dorthin verkehrt alle zwei Stunden und kostet hin und zurück neun Franken, so viel wie der tägliche Nothilfebeitrag für eine Person. Jetzt ist Fastenzeit, da kann Halice Altas sparen. Sie habe nichts zu tun, sitze den ganzen Tag herum, erzählt sie. Lana geht es von Tag zu Tag schlechter, nach zwei Suizidversuchen ist sie komplett verstummt.

Auf der Flucht misshandelt

Mariam Kidane* arbeitete in der Finanzabteilung einer Firma in Eritrea, die der Regierung nahestand. Ihr Chef habe sie belästigt, erzählt sie. Danach habe er sie entlassen. In der Folge kam Kidane ins Gefängnis, den Grund dafür habe sie nicht erfahren. Als sie das Gefängnis verlassen konnte, flüchtete sie aus Angst vor Repressionen mit ihrer jüngsten Tochter Meklit* in den Sudan, wo sie auf der Strasse von einem ihr unbekannten Mann misshandelt und verletzt wurde. Er schlug ihr mit einem harten Gegenstand auf den Rücken, suchte ihr Geld, das sie in der Unterhose versteckt hatte. Von den Schlägen schmerzte ihr Bein, aber Kidane dachte, die Verletzung würde mit der Zeit heilen. Sowieso benötigte die Organisation der Flucht ihre ganze Aufmerksamkeit. Die Reise führte Mutter und Tochter weiter via Libyen übers Mittelmeer nach Italien und in die Schweiz. Kidane erzählt ihre Fluchtgeschichte in schnellen Sätzen, sie macht einen aufgelösten und verzweifelten Eindruck. Seit ihrer Flucht sind viele Jahre vergangen, Jahre ohne Perspektive, ohne Aussicht auf eine sichere Zukunft.

Ihr Asylgesuch wurde 2018 abgelehnt, weil Kidane bei der ersten Befragung ausgesagt hatte, sie sei gesund. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie bei der Misshandlung im Sudan eine Fraktur erlitten hatte, die operiert werden musste. Das SEM vermutete, sie habe über ihren Gesundheitszustand nicht die Wahrheit gesagt. Überhaupt habe sie ihre Fluchtgründe widersprüchlich und nicht glaubhaft dargelegt, begründete das Bundesamt die Entscheidung.

Hilfe als Abschreckungsmassnahme

Das Nothilferegime sei in der Schweiz «politisch gewollt und gesetzlich verankert» und diene «der Umsetzung einer glaubwürdigen und kohärenten Asylpolitik», schreibt Christine Schraner Burgener, Staatssekretärin beim SEM, in ihrer Antwort auf einen offenen Brief, verfasst von 450 Psycholog:innen und Ärzt:innen. In diesem Brief werden die Zustände in der Nothilfe angeprangert: Die Unterzeichnenden kritisieren, dass die Nothilfe die Betroffenen systematisch krank mache (siehe WOZ Nr. 11/2022 ).

Gemäss der neusten Erhebung lebten im Jahr 2020 5623 abgewiesene Asylsuchende von Nothilfe, darunter 972 Kinder. Diese Menschen haben gemäss SEM «Minimalanspruch auf Nahrung, Kleidung und Unterkunft» sowie auf medizinische Notfallversorgung. In manchen Kantonen erhalten sie diese Nothilfe als Sachleistung, in anderen werden acht bis zehn Franken pro Kopf und Tag ausbezahlt. Sie leben in sogenannten Rückkehrzentren, die sich oft abseits von Dörfern oder Städten befinden. «So ist das Gesetz; diese Menschen könnten ja zurück in ihre Heimat gehen», diesen Satz hört man ständig, wenn man bei Behörden nachfragt, wie dieses inhumane System in der Schweiz möglich sein könne.

Fredy Fässler etwa, SP-Regierungsrat im Kanton St. Gallen und Präsident der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektor:innen (KKJPD); er antwortet auf die Frage nach der Menschenrechtskonformität des Nothilferegimes für Kinder: «Die Kritik am Nothilferegime ist mir natürlich bekannt. Der Gesetzgeber, die Bundesversammlung also, geht davon aus, dass Nothilfebezug grundrechtskonform ausgestaltet werden kann.» Nach seiner Einschätzung sei für die Kinder in erster Linie belastend, dass sie in dauernder absoluter Ungewissheit leben müssten. Sie wüssten keinen Tag, ob ihre Ausreise nun doch möglich werde. «Diesen Zustand verantworten aber die Eltern und nicht die Behörden», sagt er. Kann es sein, dass diese Eltern nicht wissen, wohin sie gehen könnten? Fässler antwortet: «Menschen in Nothilfe können in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Die Rückkehr ist vom SEM und vom Bundesverwaltungsgericht als möglich und zumutbar eingestuft worden.» Nur: Wenn die Abklärungen der Fluchtgründe so gemacht werden wie bei Halice Altas und Mariam Kidane, bleiben ein paar dicke Fragezeichen zurück – und Unverständnis.

Instrument zur Migrationskontrolle

Die Schweiz ist Unterzeichnerin der Uno-Konvention für die Rechte des Kindes. Diese postuliert, das Wohl des Kindes vor allen Gesichtspunkten zu berücksichtigen. Der Uno-Konvention könne nicht entnommen werden, meint hingegen Samuel Wyss vom SEM, dass sie generell über die Nothilfe hinausgehende Leistungen an Kinder gebieten würde. «Die kantonalen und kommunalen Behörden beurteilen jedoch im Einzelfall, ob eine weitergehende Unterstützung erforderlich ist.» Diese Auffassung teilt Daniel Gmür von der Rechtsberatungsstelle Asylex nicht: «Mir erscheint das doch etwas sehr einfach, auch gewagt, immerhin sehen die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) und diverse Fachpersonen das anders» (siehe WOZ Nr. 7/2022 ). Stossend sei insbesondere, dass die Nothilfe – gemäss Bundesverfassung zur Sicherung der Menschenwürde gedacht – dazu verwendet werde, den Betroffenen den Aufenthalt so unangenehm wie möglich zu machen. «Sie wird also – rechtswidrig – als Instrument zur Migrationskontrolle verwendet.»

Walter Leimgruber, Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission (EMK), erklärte schon vor zwei Jahren, Kinder dürften nicht für die Entscheidungen ihrer Eltern bestraft werden. Er regte an, abgewiesenen Asylsuchenden, deren Wegweisung nicht möglich sei, irgendwann eine Aufnahme zu gewähren. Kinder sollten zur Schule gehen und eine Ausbildung absolvieren können. Die EMK hat letztes Jahr das Marie-Meierhofer-Institut für das Kind beauftragt, die Situation der Kinder im Nothilferegime zu erfassen. «Untersucht wird, wie sie untergebracht, beschult, medizinisch versorgt werden oder wie ihr Alltag aussieht», erläutert Patricia Lannen, Forschungsleiterin des Instituts. Der Bericht soll Ende dieses Jahres vorliegen.

Auf die Frage, warum sie denn mit ihren Töchtern nicht in ihr Land zurückkehren, schütteln beide Mütter, Halice Altas und Mariam Kidane, resigniert den Kopf. Die Rückkehr in den Irak sei für sie einfach zu gefährlich, sagt Altas. Nachdem sämtliche Beschwerdemöglichkeiten ausgeschöpft waren, brachte Asylex den «Fall» Halice und Lana Altas vor den Uno-Kinderrechtsausschuss und erhielt «Interim Measures». «Das bedeutet, dass Mutter und Tochter nun nicht nach Litauen ausgeschafft werden können, mindestens bis zur Beendigung des internationalen Verfahrens», erläutert Joëlle Spahni von Asylex. Immerhin ein Hoffnungsschimmer.

Für Mariam und Meklit Kidane ist die Lage aussichtslos, eine Rückkehr nach Eritrea scheint zu riskant. «Eigentlich haben sie aufgegeben», sagt Fana Asefaw. Meklit bricht während des Gesprächs plötzlich in hemmungsloses Schluchzen aus. Sie zittert am ganzen Körper. Ihre Mutter versucht, sie zu beruhigen. Asefaw steht auf und stellt sich neben die Elfjährige, spricht ruhig zu ihr, berührt sie leicht am Arm und führt sie aus dem Raum, um an der Sonne ein paar Schritte mit ihr zu gehen. Trost ist die einzige Hilfe, die Meklit Kidane und ihre Mutter nun noch erhalten.

* Name geändert.