Auf allen Kanälen: «Mit Kameras bewaffnet»
Die Erschiessung der Al-Dschasira-Journalistin Schirin Abu Akleh bei einer Razzia der israelischen Armee sorgt international für Empörung.
Ein Vierteljahrhundert lang berichtete Schirin Abu Akleh über den Nahostkonflikt, einen der verhärtetsten Konflikte weltweit. Nun ist die Journalistin posthum selbst zu einem Politikum geworden, das dauerhaft umkämpft bleiben könnte. Am Mittwochmorgen vergangener Woche hatte Abu Akleh ihre letzte Nachricht an ihre Redaktion beim Nachrichtensender al-Dschasira gesendet. «Die israelische Armee ist gerade dabei, in Dschenin einzudringen, sie umstellt ein Haus im Viertel von al-Dschaberiat. Ich bin auf dem Weg, ich werde euch auf dem Laufenden halten für eine Liveschaltung», schrieb die 51-jährige Reporterin. Kurz darauf war sie tot.
Seit der jüngsten Terrorwelle gegen Israel, bei der bislang 19 Menschen gestorben sind, finden in Dschenin fast täglich Razzien statt: Die israelische Armee sucht rund um die fast 50 000 Einwohner:innen zählende Stadt im Westjordanland nach Hintermännern der Attentäter. Abu Akleh wollte von einer dieser Razzien berichten. Dabei wurde sie von einer Kugel tödlich am Kopf getroffen, obwohl sie einen Helm und eine Schutzweste trug, auf der der Schriftzug «Press» prangte. Laut Ali Samodi, der Abu Akleh begleitet hatte und der ebenfalls angeschossen wurde, waren keine palästinensischen Kämpfer in der Nähe, als sie unter Feuer gerieten. «Da waren nur die israelischen Soldaten und die Presse», sagte Samodi, der für al-Dschasira als Produzent arbeitet, gegenüber dem «Guardian».
Kampf um die Deutungshoheit
Der Tod der Journalistin löste nicht nur im Nahen Osten Bestürzung aus. Abu Akleh war für Millionen in der Region ein vertrautes Gesicht, sie berichtete seit 1997 über den israelisch-palästinensischen Konflikt – häufig aus gefährlichen Situationen. Unmittelbar nach der Erschiessung der Reporterin begann der Kampf um die Deutungshoheit über das, was geschehen war. Al-Dschasira teilte mit, dass israelische Soldaten die Journalistin und andere anwesende Reporter:innen «gezielt beschossen» hätten. Laut dem in Katar ansässigen Sender ist Abu Akleh «kaltblütig ermordet» worden. Israel widersprach dem zunächst vehement: Für den tödlichen Schuss seien vermutlich wild um sich feuernde palästinensische Kämpfer verantwortlich, israelische Soldat:innen würden dagegen kontrolliert schiessen. Im Armeeradio ging ein Sprecher der Streitkräfte sogar so weit, Abu Akleh mit einer feindlichen Kombattantin gleichzusetzen: Die Reporter:innen in Dschenin seien «mit Kameras bewaffnet» gewesen.
Kurz darauf ruderte die israelische Seite aber zurück – wohl auch, weil Abu Akleh neben dem palästinensischen zusätzlich einen US-Pass besass. Die Armee räumte nun ein, dass auch einer ihrer Soldaten den tödlichen Schuss abgegeben haben könnte, und zeigte sich bereit für eine gemeinsame Untersuchung des Vorfalls. Die palästinensische Autonomiebehörde lehnte das aber ab. So bleibt der drastische Vorwurf, die Reporterin sei gezielt ermordet worden, bis auf Weiteres ungeklärt.
Prügelnde Polizei
«Vor dem Gerichtshof der Weltöffentlichkeit» habe Israel ohnehin «bereits verloren», schrieb die linksliberale israelische Zeitung «Ha’aretz» am Freitag. Das galt erst recht nach der Beisetzung von Abu Akleh in Jerusalem, bei der die israelische Polizei den Trauerzug attackierte. Die Bilder von Polizisten, die sogar auf die Sargträger einprügelten, gingen um die Welt. Zwar kursierten bald auch Videos, auf denen zu sehen war, dass die Polizei aus dem Trauerzug heraus mit Steinen und Flaschen beworfen wurde. Das rabiate Vorgehen rechtfertigt das aber kaum. Ähnlich verstörend war auch die Nachricht, dass die Polizei am Tag nach Abu Aklehs Tod deren Wohnung in Ostjerusalem durchsucht hatte, um dort dann palästinensische Flaggen zu konfiszieren.
Laut «Reporter ohne Grenzen» sind seit der Jahrtausendwende mindestens 30 Journalist:innen von israelischen Sicherheitskräften getötet worden. Die Internationale Journalisten-Föderation spricht sogar von mindestens 46 getöteten Reporter:innen in diesem Zeitraum. Der Verband hat deswegen erst im April Beschwerde beim Internationalen Strafgerichtshof eingelegt. Der Tod von Schirin Abu Akleh sorgte nun zumindest für einen raren Moment der Einigkeit im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen: Dieser forderte eine «unverzügliche» und «unparteiische» Untersuchung ihres Todes.