Medien in Rojava: Die Kamera hat sie nicht geschützt

Nr. 10 –

Immer wieder werden in den kurdischen Gebieten im Nordosten Syriens und im Irak Journalist:innen umgebracht. Starben auch Jihan Belkin und Nazım Daştan, weil sie kritisch berichteten?

Diesen Artikel hören (10:45)
-15
+15
-15
/
+15
die Gräber von Jihan Belkin und Nazım Daştan auf dem Friedhof von Kamischli
Wahrscheinlich gezielt vom türkischen Militär umgebracht: Die Gräber von Jihan Belkin und Nazım Daştan auf dem Friedhof von Kamischli.

Die kurdische Nachrichtenagentur ANHA in Kamischli, einer Stadt im Nordosten Syriens, sieht auf den ersten Blick aus wie jede andere: Monitore hängen an der Wand, Journalist:innen tippen auf ihren Tastaturen, auf den Tischen stehen Tassen mit kaltem Kaffee. Doch dann ist da der verlassene Schreibtisch in der Ecke, auf dem ein Foto so platziert ist, dass die junge Frau darauf lächelnd in den Raum blickt. Dasselbe Bild hängt auch in anderen Räumen der Agentur, ebenso das Foto eines jungen Mannes mit Glatze und dickem Schnauzer.

Jihan Belkin und Nazım Daştan: Die beiden Journalist:innen werden nie wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Am 19. Dezember starben sie bei der Ausübung ihrer Arbeit. Vieles deutet darauf hin, dass es eine türkische Drohne war, die das Auto der beiden zerstörte. Wurden sie wegen der Arbeit, der sie nachgingen, getötet?

Wir sind für die WOZ nach Nordostsyrien gereist. Nun versuchen wir zu verstehen, warum unsere Kolleg:innen Jihan Belkin und Nazım Daştan sterben mussten. Die syrische Nachrichtenagentur Rojava Information Center (RIC) berichtet, dass seit 2019 mindestens fünf Journalist:innen in Nordostsyrien von der türkischen Armee getötet worden seien. Und auch aus der Autonomen Region Kurdistan im Irak häufen sich die Berichte zu getöteten kurdischen Journalist:innen. Am 27. Januar traf es den Journalisten Aziz Köylüoğlu, wie die kurdische Nachrichtenagentur ANF vermeldete.

Bodenoffensive und Luftangriffe

Die Anspannung in der Region ist während unseres Aufenthalts förmlich greifbar. Als Anfang Dezember die islamistische Miliz HTS auf Damaskus zumarschierte, starteten die von der Türkei finanzierten und ausgebildeten Milizen der Syrischen Nationalen Armee (SNA) eine Offensive auf die Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, auch bekannt als Rojava.

Unterstützt wurde diese von türkischen Luftschlägen. Die Türkei verfolgt schon seit langem das Ziel, die Selbstverwaltung zu zerschlagen, weil sie als Vorbild für Autonomiebestrebungen von Kurd:innen in der Türkei gilt. Während unserer Reise in Nordostsyrien tauchen über den Ortschaften immer wieder türkische Drohnen und Kampfjets auf, die dicke weisse Kondensstreifen in den Himmel zeichnen. Die Angst ist unser ständiger Begleiter.

Dabei sei sie grösstenteils unbegründet, versichern die Kolleg:innen vor Ort. Denn in den allermeisten Fällen wähle die Türkei ihre Ziele sehr bewusst. Aus den vergangenen Jahren ist kein Fall bekannt, in dem die Türkei in Nordostsyrien westliche Journalist:innen getötet hätte. Lokale Reporter:innen jedoch werden zu Angriffszielen. Das dürfte mehrere Gründe haben: Zum einen sind sie oft bereit, grössere Risiken einzugehen als viele westliche Bericht­erstatter:innen und werden so zur «Gefahr» für die türkische Propaganda. Zum anderen muss die Türkei kaum Konsequenzen fürchten, wenn sie diese ermordet.

Portraitfoto von Shinda Akram
«Ich sagte ihr, im Gegensatz zu ihr hätten die Kämpfer Waffen. Sie sagte nur: ‹Ich habe meine Kamera!›»: Shinda Akram, die beste Freundin von Jihan Belkin.

«Jihan hat es nie länger als zwei Tage am Schreibtisch ausgehalten», sagt Shinda Akram, die beste Freundin der getöteten Journalistin. Akram sitzt im Wohnzimmer ihres Hauses in Kamischli neben einem kleinen Ölofen auf dem Teppich. Auf ihrem Laptop zeigt sie Fotos von sich und der Freundin aus den vergangenen acht Jahren. Auf fast jedem Bild lächelt Jihan Belkin. Akram sagt, sie beide hätten es geliebt, unterwegs zu sein; besonders gerne hätten sie zusammen gesungen. «Oft haben wir schon losgesungen, wenn wir uns auf der Strasse aus der Ferne gesehen haben.»

Jihan Belkin sei eine Frau gewesen, die gewusst habe, was «wahre Schwesternschaft» bedeute. Jede freie Minute hätten sie geteilt, auch abseits der Arbeit. Nur an die Front wollte die Reporterin Shinda Akram nicht, im Gegensatz zu Belkin. «Wir haben oft darüber gesprochen, wie sie sich schützen könnte», sagt Akram. «Wenn ich sagte, dass die Kämpfer im Gegensatz zu ihr Waffen hätten, um sich zu verteidigen, sagte sie nur: ‹Ich habe meine Kamera!›» Jihan Belkin habe von der Front berichten wollen, «sie fühlte sich verantwortlich dafür, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Denn: Wer würde es sonst tun?»

Fünf Monate Gefängnis

2017 war Jihan Belkin aus der Türkei nach Kamischli gezogen, um über das Gesellschaftssystem in Nordostsyrien und die türkischen Angriffe zu berichten, genauso wie ihr Kollege Nazım Daştan, der drei Jahre vor ihr nach Rojava gekommen war, um für unterschiedliche kurdische Medienagenturen zu arbeiten. Wegen der Repressionen durch die Türkei konnte er seit 2016 nicht mehr in seine Heimat zurück. Nachdem er einen Bericht über die Unterstützung des Islamischen Staats durch türkische Sicherheitsbehörden veröffentlicht hatte, musste er für fünf Monate ins Gefängnis. Verhaftet wurde er wegen «Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation» – ein Vorwurf, der gegen viele kurdische Journalist:innen erhoben wird, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan kritisch gegenüberstehen und denen eine Nähe zur verbotenen kurdischen Arbeiter:innenpartei PKK nachgesagt wird.

Ahmad Mohammad und Arin Swed von der Nachrichtenagentur ANHA
«Schon seit längerem hat die Türkei versucht, Jihan zu stoppen»: Ahmad Mohammad und Arin Swed leiten die Nachrichtenagentur ANHA in Kamischli.

Auch Jihan Belkin sei bedroht worden, erzählt Ahmad Mohammad von ANHA. Er leitet die Redaktion gemeinsam mit seiner Kollegin Arin Swed. «Schon seit längerem hat die Türkei versucht, Jihan zu stoppen.» Immer wieder habe die Journalistin Anrufe von Mitarbeitern des türkischen Geheimdiensts bekommen. Mit Sätzen wie «Wir wissen, wo du bist, und wir werden dich ins Visier nehmen!» hätten die Anrufer sie bedroht. Sogar ihre Mutter in der Türkei sei verhört und ihr Vater mehrmals verhaftet worden. «So wollten sie Jihan zur Rückkehr zwingen. Aber sie blieb trotzdem», sagt Mohammad. Aus Sicherheitsgründen habe sie ihre Profile in sozialen Netzwerken deaktiviert. Geschützt hat sie das nicht.

Mitte Dezember waren Jihan Belkin und Nazım Daştan zum Tischrin-Damm gefahren, seit Wochen der am stärksten umkämpfte Abschnitt der Front (siehe WOZ Nr. 4/25). Die beiden hätten herausfinden wollen, was dort tatsächlich passiert sei, sagt ANHA-Redaktionsleiterin Arin Swed. Denn: «Medien und Desinformation spielen in diesem Krieg eine ganz entscheidende Rolle.» So habe die türkische Propaganda im Dezember tagelang behauptet, der strategisch wichtige Tischrin-Damm, der grosse Teile des Nordostens mit Strom versorgt, sei in der Hand der protürkischen Milizen. Erst durch einen Vor-Ort-Bericht der beiden Kolleg:innen sei die Lüge aufgeflogen.

Reaktionen aus aller Welt

Arin Swed stellt einen Laptop vor sich auf den Tisch und zeigt das letzte Video, das Jihan Belkin an ANHA gesendet hatte. Die Journalistin steht vor einem zerstörten Gebäude und spricht in die Kamera: «Hier wurde der Vormarsch der protürkischen Milizen von den kurdischen Kämpfer:innen aufgehalten.» Wenige Stunden später, um 15.20 Uhr, wird das Auto, mit dem die beiden Journalist:innen unterwegs sind, von einer Rakete getroffen, höchstwahrscheinlich abgefeuert von einer türkischen Drohne. Beide sind sofort tot, ihr Fahrer überlebt schwer verletzt. Dass sie auf dem Rückweg vom Staudamm ins Visier genommen wurden, ist für Arin Swed ein Indiz dafür, dass sie gezielt von der Türkei angegriffen wurden.

Laut der Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) geht die türkische Regierung derzeit «härter denn je» gegen kritische Journalist:innen vor. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von RSF belegt die Türkei Platz 158 von 180. Der Tod von Jihan Belkin und Nazım Daştan hat weltweit Reaktionen hervorgerufen. Die Schriftstellervereinigung PEN International schrieb auf X: «Wir bedauern die Tötung der kurdischen Journalisten Nazım Daştan und Jihan Belkin durch einen türkischen Drohnenangriff im Norden Syriens. Wir fordern die Türkei auf, unverzüglich zu ermitteln und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.» Der Sprecher des Deutschen Journalisten-Verbands, Mike Beuster, sagte: «Wenn sich herausstellen sollte, dass Nazım Daştan und Jihan Belkin gezielt ermordet wurden, weil sie journalistisch tätig waren, muss das Auswirkungen auf die diplomatischen Beziehungen Deutschlands zur Türkei haben.»

Wie sehen Arin Swed und Ahmad Mohammad solche Bekundungen? Klar, sagen die beiden, seien sie sehr froh um den Zuspruch von Kolleg:innen aus dem Ausland. Aber es sei wichtig, dass es nicht nur bei Statements bleibe. Wir, die ausländischen Kolleg:innen, sollten weiter Druck machen, bis die Wahrheit ans Licht komme, sagt Ahmad Mohammad. Auf die Türkei sei dabei kein Verlass. «Warum sollte sie ein Verbrechen aufdecken, das sie selbst begangen hat?», fragt Arin Swed.

Verweigerte Überführung

Auch nach der Ermordung lässt die Türkei Jihan Belkin und Nazım Daştan keine Ruhe. Auf Demonstrationen in der Türkei gegen die Ermordung der beiden nahm die Polizei Dutzende Kolleg:innen fest. Einen Tag nach dem Besuch in der Nachrichtenagentur ANHA sind vor dem Friedhof in Kamischli Zelte aufgebaut. Hier findet eine Trauerfeier für fünf «Märtyrer:innen» statt, normalerweise sind damit Kämpfer:innen der kurdischen Selbstverwaltung im Nordosten Syriens gemeint. An diesem Tag aber wird auch Nazım Daştan und Jihan Belkin gedacht.

Ihre Kolleg:innen haben sich Fotos der beiden mit Sicherheitsnadeln ans Revers geheftet. Sie hätten alles versucht, damit die Leichname der Journalist:innen in die Türkei überführt würden, sagt Ahmad Mohammad – aber die türkischen Behörden hätten ihnen die notwendigen Papiere nicht ausgestellt. Wenige Tage später werden sie deshalb in Kamischli beigesetzt – viele Hundert Kilometer von ihren Familien entfernt.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen