Offensive im Westjordanland: «Sie gehen vor wie in Gaza»

Nr. 9 –

Am 21. Januar ist die israelische Armee in das Flüchtlingslager von Dschenin eingerückt – und hat die Operation auf weitere Lager ausgeweitet. Seither wurden im Westjordanland so viele Menschen vertrieben wie seit dem Sechstagekrieg nicht mehr.

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Am Sonntagmorgen hat sich Nasmi Turkman ins geräumte Flüchtlingslager von Dschenin im Westjordanland geschlichen. Über Schutthaufen und den Schlamm der von Bulldozern aufgerissenen Strassen in die kaum wiedererkennbare Geisterstadt, in der Armeejeeps postiert und schwere Baumaschinen am Werk sind. «Ich wollte mein Zuhause sehen, seinen Geruch riechen», sagt der Gemüsehändler, der wie Tausende Bewohner:innen des Camps seit Beginn der israelischen Operation vor mehr als einem Monat vertrieben wurde. «Mein ganzes Leben ist dort, wir konnten nur unsere Kleidung mitnehmen.»

Er sei bis auf etwa fünfzig Meter herangekommen, erzählt der 53-Jährige. Dann habe ihm ein Bulldozer den Weg versperrt. «Ich konnte sehen, dass alle drei Stockwerke ausgebrannt waren, die Wand im Erdgeschoss eingedrückt.»

Am 21. Januar ist die israelische Armee in das rund einen halben Quadratkilometer grosse, dicht bebaute Lager eingerückt. Seither wurde die Operation unter anderem auf die Flüchtlingslager von Tulkarem und Nur Schams ausgeweitet. Laut Uno-Angaben wurden rund 40 000 Menschen vertrieben, so viele wie seit dem Sechstagekrieg 1967 nicht mehr, als Israel das Westjordanland besetzte. Geht es nach Israels Verteidigungsminister Israel Katz, wird Turkman sein Haus so schnell nicht mehr sehen. Die Armee solle sich «für das kommende Jahr auf einen langen Aufenthalt in den geräumten Lagern vorbereiten», hiess es in einer Erklärung. Die Bewohner:innen sollen «nicht zurückkehren».

Nach der Explosion dreier Busse in einem Depot in Tel Aviv in der vergangenen Woche rollten am Sonntag erstmals seit der zweiten Intifada, dem palästinensischen Volksaufstand Anfang der nuller Jahre, Panzer nach Dschenin. Es sind Bilder, die Turkman noch von damals kennt. Er fürchte sie nicht, sagt er und deutet auf seinen Bauch. Darin stecke noch eine Kugel, die ihn während der Zerstörung des Flüchtlingslagers 2002 getroffen habe: «Seit ich damals verletzt auf der Strasse lag und die Panzer Zentimeter von mir entfernt vorbeigefahren sind, habe ich keine Angst mehr.»

«Verdächtige Individuen»

Turkman, seine Frau, zwei Söhne und drei erwachsene Töchter haben Zuflucht im Haus eines Blindenverbands auf der anderen Seite der Stadt gefunden. Eine Drohne mit Lautsprecher hatte sie kurz nach Beginn der Operation aufgefordert, das Lager zu verlassen. Seinen Cousin im Rollstuhl hätten sie durch den Schlamm tragen müssen. Nun teilen sich fünf Männer einen Raum im dritten Stock. Bei fünf Grad Aussentemperatur sitzen sie um einen kleinen Heizstrahler. Turkman will auf jeden Fall zurückkehren: «Wenn nicht in diesem, dann im nächsten Jahr.»

Israel gibt an, in den Lagern gegen bewaffnete Gruppen und «Terrorinfrastruktur» vorzugehen (bis Mitte dieser Woche wurden laut Angaben der Armee rund 200 Waffen konfisziert). Die Lager zählen seit langem zu Hochburgen bewaffneter palästinensischer Milizen; die Armee zerstört aber auch Strassen, die Wasser- und Stromversorgung sowie Telekommunikationsleitungen der laut Uno-Angaben 13 000 bis 15 000 Bewohner:innen. Mitunter haben Soldaten ganze Gebäudeblocks gesprengt, 120 Wohnhäuser sollen laut den lokalen Behörden zerstört sein. «Sie gehen vor wie in Gaza», sagt Turkman.

Seit Beginn der Operation wurden im Westjordanland mehr als 360 Menschen festgenommen und rund 60 getötet, viele von ihnen Zivilist:innen. Eine von ihnen war die dreizehnjährige Rimas al-Amuri. Die Familie wohnt am Rand des Lagers, ihr Haus war nicht geräumt worden.

«Sie ist gegen sechzehn Uhr zur Türe raus und wollte zum Haus über die Strasse», erzählt ihr Bruder Samer im benachbarten Burkin, wo die Familie bei den Grosseltern trauert. Kurz darauf hörte er Schüsse und sah Rimas auf der Strasse vor dem Haus liegen. Weil die Soldaten weiter schossen, sei es dem zweiten Bruder Momen erst beim dritten Anlauf gelungen, seine blutende Schwester zu bergen, erzählt der Zwanzigjährige. Der zur Hilfe gerufene Krankenwagen traf wegen der langwierigen Koordination mit der Armee erst eine halbe Stunde später ein. Im Krankenhaus wurde ihr Tod festgestellt.

Die israelische Armee nennt Rimas in ihrer Stellungnahme ein «verdächtiges Individuum», das Soldaten am Freitag identifiziert hätten. Als sie auf Zuruf nicht reagiert habe, hätten Soldaten auf ihren Bauchbereich gefeuert. Der Vorfall werde untersucht.

«Sie sagen, sie gehen gegen Terroristen vor», sagt Rimas’ Vater Omar al-Amuri, der bei der Geheimpolizei der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) arbeitet. Vor der israelischen Offensive war seine Behörde in Dschenin selbst sechs Wochen lang gegen bewaffnete palästinensische Gruppen vorgegangen. Seine Stimme zittert: «Es wurde kaum mehr gekämpft, schon gar nicht in unserer Nachbarschaft. Da war nur meine Tochter vor der Tür. Dafür gibt es keine Entschuldigung.»

Angst vor dauerhafter Besetzung

Das israelische Militär hat laut einem Bericht der israelischen Tageszeitung «Haaretz» unter Berufung auf Armeequellen die Bedingungen für seine «Feuerbefehle» für die Operation im Westjordanland gelockert. Laut Soldaten und Kommandeuren soll der Chef des Zentralkommandos, Generalmajor Avi Bluth, erlassen haben, dass Soldaten tödliche Schüsse auf jede Person abgeben dürfen, die sich «am Boden zu schaffen macht». So soll dem Bericht zufolge verhindert werden, dass Sprengfallen platziert werden können.

In einem anderen Fall zeigen Aufnahmen einer Überwachungskamera aus Tulkarem, wie Ende Januar einem siebenjährigen Jungen auf dem Trottoir in den Rücken geschossen wird, als er sich bückt. «Haaretz» zitiert Mitglieder von Kampfverbänden, denen zufolge der Befehl Soldaten «schiesswütig» mache. Die Armee dagegen bestreitet jede Änderung an den Einsatzregeln. Die Soldaten gingen «wie erforderlich gegen Terroristen vor, die eine Bedrohung darstellen».

Mit einer Sondererlaubnis der Armee begrub die Familie Rimas am Samstag nahe ihrem Haus. Samer zeigt ein Video: Wenige Meter neben der Trauergemeinde überwachten israelische Soldaten das Begräbnis.

Aus dem kleinen Burkin, das rund 3500 Menschen aus dem Flüchtlingslager aufgenommen hat, will die Familie wieder in ihr Haus zurückkehren. «Ich bin im Camp geboren», sagt Rimas’ Vater. «Wir haben es 2002 wieder aufgebaut, wir werden auch diesmal zurückkehren.» Das Problem sei mit Gewalt nicht zu lösen. «Solange es die Besetzung gibt, wird es die Lager geben», sagt er. Bevor Dschenin zu einer Hochburg bewaffneter Gruppen wurde, waren seine Grosseltern und die meisten Bewohner:innen Dschenins 1948 im Zuge der Staatsgründung aus dem heutigen Israel vertrieben worden, konkret aus dem Dorf Zirin, auf dem heute eine Kibbuzsiedlung steht. Die Palästinenser:innen sprechen von der ­«Nakba», der Katastrophe.

Unter Palästinenser:innen wächst angesichts des Vorgehens der israelischen Armee die Angst, Israel könne Teile der seit den Oslo-Abkommen 1993 unter die alleinige Kontrolle der PA gestellten A-Gebiete des Westjordanlands wieder dauerhaft kontrollieren (in den Gebieten B und C obliegt Israel ohnehin bereits die Kontrolle). Der Bürgermeister von Dschenin, Mohammed Dscharrar, sagte der «New York Times», er fürchte eine «Wiederbesetzung der Stadt».

Vor der Zufahrt zum Flüchtlingslager schwanken Krankenwagen über die vom Winterregen aufgeweichte Piste zur Notaufnahme des Krankenhauses. Teppiche sollen den schlimmsten Schmutz draussen halten. Im Eingangsbereich hängen Bilder getöteter Ärzte neben Postern getöteter Bewaffneter. Klinikchef Wisam Baker, ein stämmiger Mann mit Schnauzbart, beobachtet einen Tanklastwagen, der Wasser zur Klinik bringt. Die Wasser- und Stromversorgung falle immer wieder aus. «Vor zwei Tagen haben Soldaten den Fahrer eines Wassertransports hier im Hof festgehalten und verprügelt», sagt er und zeigt Videoaufnahmen des Angriffs. «Ein paar Stunden später haben sie ihn freigelassen.» Auch das Klinikpersonal werde regelmässig nicht zur Arbeit gelassen.

Direkt hinter dem Kliniktor beginnt der geräumte Teil des Lagers. Drei junge Frauen kommen aus der Notaufnahme und gehen in Richtung Camp. Wo genau das von der Armee kontrollierte Gebiet beginnt, weiss niemand. Wo eventuell Scharfschützen sitzen, ebenfalls nicht. Doch wenn Israel Katz denke, dass sie ihre Häuser einfach aufgeben würden, «dann weiss er nicht, was zu Hause bedeutet», sagt eine. Dann machen sich die drei auf den Weg ins Lager.

Mitarbeit: Abed Omar Qusini.