Die wohl grösste aktuelle Katastrophe herrscht schon seit langem, ohne grosse Resonanz im sogenannten Westen: «Im Jahr 2020 litten gemäss Schätzungen der [Welternährungsorganisation] FAO rund zehn Prozent der Weltbevölkerung an Hunger.» Und «fast ein Drittel der Weltbevölkerung, also 2,37 Milliarden, konnte sich 2020 nicht ausreichend ernähren und war – im gängigen Sprachgebrauch – unterernährt», schreibt die Soziologin Tina Goethe im neuen «Widerspruch».

Die halbjährlich erscheinende Zeitschrift widmet ihre aktuelle Nummer der «Vermessung der Katastrophe». Goethe stellt in ihrem Beitrag abschliessend fest, dass der Skandal des «täglichen Hungerns» offenbar «wissentlich oder unwissentlich in Kauf genommen» werde. Andere Katastrophen, das zeigen die insgesamt vierzehn Artikel zu den Schwerpunktthemen Klimaerhitzung und Covid-19-Pandemie, erhalten zwar mehr Aufmerksamkeit, doch auch hier lassen sich statt ernsthafter Bemühungen, den Herausforderungen zu begegnen, Strategien einer akzeptierenden Normalisierung beobachten.

Die Zugänge der «Widerspruch»-Artikel sind abwechslungsreich – literarische und essayistische Beiträge ergänzen die analytischen –, doch erreichen sie nicht immer die gewünschte Tiefe. Dass Klimaerhitzung und Corona jene besonders schwer treffen, die unter den herrschenden Verhältnissen sowieso schon am meisten leiden, ist eine traurige, aber auch bekannte Tatsache. Und es werden allenthalben Strategien gefordert, angemessen auf die Katastrophen zu reagieren. Doch genau hier hapert es. Ansätze, die zumindest zu erklären versuchen, warum etwa die Erhitzung des Klimas durchaus als Problem wahrgenommen, aber dennoch nicht wirklich etwas dagegen unternommen wird, sind kaum zu finden. Wer dazu mehr wissen will: Provokante Thesen finden sich etwa in Ingolfur Blühdorns Buch «Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit. Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet» (Transcript, 2020).

Und die neuste Katastrophe? Als Putin seine Truppen losschickte, war der «Widerspruch» praktisch fertig. Voll geworden ist das Heft trotzdem mühelos.

Widerspruch: Vermessung der Katastrophe. Widerspruch 78. Rotpunktverlag. Zürich 2022. 239 Seiten. 25 Franken