Bieridee: Der orange Schwips
Die mediale Aufmerksamkeit, die die Migros mit ihrer Abstimmung über die «Alkoholfrage» entfacht, ist gross. Damit überblendet sie die eigene Ideenlosigkeit.
Ginge es mit dem Thema Alkohol nicht auch um ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem, könnte man sich lustig machen über diese Urabstimmung unter 2,3 Millionen Genossenschafter:innen, mit der sich der Migros-Konzern zu einem Staat im Staat aufspielt. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die Inszenierung am vergangenen Freitag, als die Frage, ob die Volksdroge Nummer eins bald auch in M-Filialen verkauft werden dürfe, in der ansonsten für realeidgenössische Debatten reservierten SRF-«Arena» ausgebreitet wurde.
Nun ist es ja nicht so, dass die Migros ihr Alkoholverkaufsverbot nicht längst gelockert hätte. Seit der Übernahme der (wieder verkauften) Globus-Kette (1997) und dem Kauf der Denner-Läden (2007) mischt sie im Alkoholgeschäft mit. 2009, mit der Gründung der Tochtergesellschaft Migrolino, kamen Kleinshops an Tankstellen und Bahnhöfen hinzu, die wie Denner zudem auch Tabakwaren anbieten. Und seit Ende Januar 2021, rechtzeitig zum Lockdown, kann man sich das Rauschmittel über den Migrolino-Onlineshop auch nach Hause liefern lassen. Nicht zu vergessen: die Naturweine in den Alnatura-Läden.
Wie auch immer: Bis zum kommenden Samstag läuft zum zweiten Mal nach 1948 eine Urabstimmung in den zehn Regionen des Migros-Genossenschaftsbunds, nachdem die regionalen Genossenschaftsräte einem entsprechenden Antrag von fünf Migros-Delegierten zugestimmt haben. Für eine Aufhebung des Verbots bräuchte es eine Mehrheit von jeweils mindestens zwei Dritteln.
Legendenerzählung inklusive
«‹Oui› oder ‹Non›?»: Mit diesem Slogan bewirbt der Konzern nicht nur die Abstimmung, sondern gleich auch die je nach Resultat alkoholhaltige oder -freie eigene Biermarke – inklusive Legendenerzählung rund um die Konzerngeschichte. Und auch ein bisschen Demokratiekritik wird simuliert, wenn in einem Werbespot ein Mann vor der Kasse fragt: «Warum dürfen eigentlich nicht alle darüber abstimmen; es geht doch alle etwas an?» – und die Kassiererin antwortet: «Es dürfen ja auch alle – sie müssen einfach alle Genossenschafter:innen werden.»
So einfach ist es in der M-Demokratie, wobei der Medienkonzern Tamedia brav mitspielt und im April eine Umfrage machte: 27 Prozent der Genossenschafter:innen wären demnach klar für den Alkoholverkauf und 46 Prozent klar dagegen – wobei es, da jede M-Region für sich entscheidet, zu Regionen mit und solchen ohne Alkohol kommen könnte.
Befürworter:innen aus der höheren Konzernetage argumentieren, dass Alkohol heute «meist vernünftig als Genussmittel» konsumiert werde – «anders als vor hundert Jahren, als es noch keine Sozialversicherungen gab». Auch wittern sie bei einem Festhalten am Verbot ein Glaubwürdigkeitsproblem, da ja über Denner und andere Kanäle bereits Alkohol verkauft werde. Zum Schluss verweisen sie auch noch ein bisschen auf den Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen Detailhändlern.
Gegner:innen wie die «Gruppe für M-Werte» um den ehemaligen Migros-CEO Herbert Bolliger oder das Blaue Kreuz argumentieren derweil mit den schätzungsweise etwa 250 000 alkoholkranken Menschen in der Schweiz. Gerade für «trockene Alkoholiker», die in der Migros einkauften, wäre ein solcher Paradigmenwechsel gefährlich, betonen Suchtexpert:innen. Andere warnen vor einem Verlust des Alleinstellungsmerkmals und der «Missachtung des Willens ihres Gründers».
Die Parallele zu damals
Doch waren es tatsächlich von Anfang an die «Förderung der Volksgesundheit» und der Kampf gegen «das allmächtige Alkoholkapital», die den Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler 1928 zur Einführung des Verbots bewogen? Oder spielte nicht schon damals mindestens so sehr auch ein Marketinggedanke mit? Mit dem Kauf der Mostfabrik Alkoholfreie Weine AG in Meilen ZH jedenfalls forcierte Duttweiler die Produktion von Süssmost, senkte dessen Preis so tief, dass er noch günstiger als der damalige Billigschnaps war – und machte den Most damit zu einem Volksgetränk. Könnte es sein, dass zuerst die Geschäftsidee war – und erst danach die soziale?
Ende der 1920er Jahre, angesichts der «verheerenden Schnapsgewohnheiten» (Duttweiler) vor allem unter Fabrikarbeitern, hatte der Entscheid eine sozialpolitische Relevanz. Und heute? Eine Parallele gibt es: Die ersten Jahre nach der Gründung im Jahr 1925 stand die Migros in einem unerbittlichen Wettbewerb. Bald schon aber schwang sie sich zur Marktführerin auf – bis 2011 Coop erstmals mehr Umsatz erzielte, nachdem zuvor schon die deutschen Konzerne Aldi (seit 2005) und Lidl (seit 2009) den Schweizer Markt neu aufgemischt hatten.
Doch anders als vor hundert Jahren scheint die Migros bislang keine fulminante Idee zu haben, die aus einem Mangel ein Alleinstellungsmerkmal und daraus einen Wettbewerbsvorteil zaubern könnte. Wenn also schon die ständige Bezugnahme auf Begriffe wie «soziales Kapital», «Nachhaltigkeit», «gesellschaftliche Verantwortung»: Was hiesse das aus gesamtgesellschaftlicher Sicht – für einen Konzern notabene, der inzwischen in fast allen Lebensbereichen wirkt (von der Immobilienwirtschaft über den Tourismus bis zum Bankenwesen)? Wo schlummert in Zukunft dieses «soziale Kapital»? Sozialer Wohnungsbau? Suchtprävention? In drei Jahren feiert der «Riese» sein erstes volles Jahrhundert.