«Memoria»: Die Erde grollt, aber wer hört noch hin?
Ein Mann lässt Steine sprechen, Tilda Swinton ist auf Empfang – und doch ist der neue Film von Apichatpong Weerasethakul weit weg von einer esoterischen Predigt.
«Erdiger.» Etwas verspannt sitzt sie neben dem Tontechniker vor seinem riesigen Mischpult und gibt sich alle Mühe, den dumpfen Knall zu beschreiben, der sie hin und wieder aufschrecken lässt: «Mehr wie ein Grollen, tief aus dem Erdkern.» Sie lacht verlegen, es ist ihr etwas peinlich. Aber der schöne junge Mann klickt geduldig weiter durch seine Datenbank aus Filmgeräuschen und versucht, den beschriebenen Knall annähernd zu rekonstruieren. Und dann erstarrt Tilda Swinton, ihr Gesicht wird zu einer Totenmaske. Erschüttert bis ins Mark, gibt sie ihm mit der Ahnung eines Nickens zu verstehen: Das ist es.
Die Erde grollt in «Memoria», dem neuen Film von Apichatpong Weerasethakul. Der Thailänder, der sich auch nach seiner Goldenen Palme für «Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives» (2010) unbeirrt in den Grenzgebieten zwischen Kino und Videokunst bewegt, hat diesmal in Kolumbien gedreht. Fremdes Terrain mit fremder Sprache, für den Regisseur genauso wie für seine schlaflose Protagonistin. Tilda Swinton spielt Jessica, eine britische Botanikerin, die von diesem sporadischen Rumpeln aus der Erde heimgesucht wird, das offenbar nur sie hört – und wir. Was will es ihr sagen? Was will es uns sagen, abgesehen davon, dass der Realitätssinn dieser Frau etwas prekär scheint?
Als Jessica sich einen archäologischen Fund zeigen lässt, darf sie sachte einen Finger in das Loch im Schädel stecken. Vielleicht könnte sie in ihren Kopf ja auch so ein Loch bohren lassen, wie man das vor Tausenden von Jahren machte, damit böse Geister entweichen können. Ob dann auch dieses Grollen von ihr ablassen würde, wie ein böser Geist?
Der Planet hat Schluckauf
Möglich, dass das der Sound des Anthropozäns ist, was sich hier stossweise artikuliert. Oder der Planet hat irgendwie Schluckauf. Auf alle Fälle ist «Memoria» eine Lektion in Demut und Achtsamkeit. Das dumpfe Geräusch reisst Jessica aus ihrem Alltag in Medellín und entfremdet sie von ihrer Umgebung – aber es macht sie auch empfänglich, etwa für Schwingungen, die viele von uns gar nicht wahrnehmen. Oder technizistisch gesagt: Die Frau ist auf Empfang geschaltet.
Wie ihre Suche nach dem Ursprung des Grollens dann mit Motiven aus den angesagten Diskursen der Gegenwart garniert wird, hat allerdings auch etwas Beliebiges. Da ist der kolumbianische Schwager, der Jessica mit einem von ihr inspirierten Gedicht über Pilze beglückt, in dem er über «fermentierte Wunden» staunt. Später sitzt sie in einem Lesesaal und blättert unmotiviert in einem Buch über Pilze, Viren und Bakterien. Und manchmal schauen wir ihr auch einfach zu, wie sie in einer Galerie Kunst anschaut oder am Konservatorium einer Jazzband lauscht. Klar, hier gehts um Kontemplation als Feier der absoluten Präsenz, ein Aufgehen im Augenblick. Aber das Kontemplative ist in «Memoria» nicht immer vom Narkotischen zu trennen, die Übergänge sind fliessend. Und so anregend die thematischen Fäden sind, die Apichatpong Weerasethakul auslegt: Sie bleiben oft etwas unverbindlich liegen.
Freejazz im Maschinenpark
Auf ihrer Suche landet Jessica schliesslich in den Bergen, wo sie Rat bei einer Ärztin sucht. Ob sie ihr nicht irgendeine Pille verschreiben könne? Doch die Medizinerin rät ihr lieber zur Religion, das habe schon vielen hier im Dorf geholfen. Sie solle besser lernen, mit der gesteigerten Empfindsamkeit zu leben, sonst fehle ihr dann auch jeder Sinn für das Schöne wie für das Traurige. Die Ärztin, die ihrer Patientin Jesus statt Xanax verschreibt: Die Szene ist lustig, aber sie zeigt auch, dass die Spiritualität, die «Memoria» umkreist, weder in der Religion noch in der Wissenschaft ein festes Zuhause hat, sondern, wenn schon, in den Zwischenzonen, in einem Animismus jenseits einfacher Gegenüberstellungen – einem Animismus, der auch die Technik einschliesst.
Wie weit weg der Film von einer esoterischen Predigt ist, sieht man auch daran, dass die stärksten Szenen oft solche mit Maschinen sind. Zum Beispiel, wenn eine profane Fehlzündung auf offener Strasse unter den Leuten ein diffuses Klima der Angst triggert. Oder besonders schön gleich zu Beginn des Films, wenn auf einem Parkplatz in der Dämmerung die Diebstahlsicherung eines Autos losgeht und dann alle anderen Autos blinkend und hupend einstimmen: Freejazz im Maschinenpark.
Der Mensch, das vermittelt «Memoria», ist ja auch so eine Maschine. In den Bergen trifft Jessica einen Fischer mit schier übermenschlicher Erinnerung, der Steine sprechen hört. Der Mann hat sein Dorf noch nie verlassen, weil er angeblich restlos alles, was er sieht und erlebt, im Gedächtnis speichert; der Strom der Eindrücke, der in der grösseren Welt draussen auf ihn eingestürzt wäre, hätte ihn hoffnungslos überfordert. Als er Jessica dann an seiner lückenlosen Erinnerung teilhaben lässt, knistert es leise zwischen den beiden – und zwar nicht etwa im Sinne dieser ausgeleierten romantischen Metapher, sondern buchstäblich.
Der Mensch, ein soziales Medium für seinesgleichen: zwei Apparate aus Fleisch und Blut, die mit ihren Erinnerungen auf Senden und Empfangen eingestellt sind.
Jetzt im Kino. Im Stadtkino Basel ist Apichatpong Weerasethakul in Zusammenarbeit mit der Art Basel zudem eine Retrospektive gewidmet.
Memoria. Regie und Drehbuch: Apichatpong Weerasethakul. Thailand/Kolumbien 2021