EU / Ukraine: Wie flexibel sind Kriterien?

Nr. 24 –

Rein formal ist eine EU-Mitgliedschaft für die Ukraine derzeit nicht realistisch. Dass die EU-Kommission dem Drängen Kyjiws trotzdem Gehör schenkt, zeigt: Die Beitrittsfrage ist derzeit auch eine moralische.

Wenn sich die Staats- und Regierungschef:innen der EU am kommenden Donnerstag in Brüssel zum Gipfel treffen, wird es nicht zuletzt um eine richtungsweisende Frage gehen, die die Union derzeit umtreibt: Wie wollen sie es halten mit der Ukraine, die seit vier Monaten der russischen Invasion standhält? Wie geht man mit dem Antrag auf EU-Mitgliedschaft um, den Präsident Wolodimir Selenski bereits kurz nach Kriegsbeginn einreichte? Bekommt die Ukraine einen Kandidatenstatus, und wenn ja, wie realistisch ist diese Beitrittsperspektive?

Einen Hinweis könnte es bereits am Freitag dieser Woche geben. Der erste Schritt auf dem möglichen Weg der Ukraine in die EU, eine Empfehlung der EU-Kommission hinsichtlich des Antrags aus Kyjiw, steht jedenfalls kurz bevor. Das verkündete Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, letztes Wochenende auf einer Pressekonferenz mit Selenski. Von der Leyen weilte in der ukrainischen Hauptstadt, um über Details der Kandidatur zu diskutieren. Schon im Mai hatte sie eine schnelle Entscheidung der Kommission in Aussicht gestellt.

Die Mitgliedstaaten sind gespalten

Von zügigen Prozessen und verkürzten Verfahren ist seit Kriegsbeginn viel die Rede, wenn es um den möglichen EU-Beitritt der Ukraine geht. Einerseits ist das schlicht Rhetorik, die der dramatischen Lage geschuldet ist, denn entsprechende Verfahrensabkürzungen existieren nicht. Schon der Status eines Beitrittskandidaten wird einem Land nur verliehen, wenn alle 27 EU-Mitgliedstaaten dies einvernehmlich beschliessen. Nur dann können inhaltliche Verhandlungen aufgenommen werden, die in der Regel jahrelang dauern und an deren Ende erneut eine Abstimmung aller Mitglieder folgt. Andererseits steht am Anfang des Prozesses die besagte Empfehlung der EU-Kommission, die gemäss der Ankündigung von der Leyens nun tatsächlich innerhalb von wenigen Wochen vorliegt – deutlich schneller als gewöhnlich.

An diesem Sachverhalt zeigt sich beispielhaft, in welchem Zwiespalt sich die Europäische Union bezüglich der ukrainischen Kandidatur befindet. Die Spitzen ihrer Institutionen haben sich klar zu einem Beitritt bekannt, nicht nur von der Leyen, sondern auch Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, der die Ukraine als Teil der «europäischen Familie» sieht und «alle Anstrengungen unternehmen» will, um die gegenseitigen Verbindungen zu stärken. Auch das EU-Parlament rief Kommission und Mitgliedstaaten kurz nach Kriegsbeginn dazu auf, eine Kandidatur zu ermöglichen.

Just die Mitgliedstaaten aber sind bei diesem Thema tief gespalten. Acht mittel- und osteuropäische Staaten (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei und Slowenien) sprachen sich bereits im März für einen sofortigen Kandidatenstatus der Ukraine aus. Kaja Kallas, die estnische Premierministerin, nannte dies sogar eine «moralische Pflicht», da die Ukraine auch für Europa kämpfe. Auf der anderen Seite steht die Zurückhaltung der älteren Mitglieder: Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer etwa sprach sich für schnelle Hilfe an die Ukraine aus, ein EU-Beitritt sei aber ein langer Prozess. Stellvertretend für viele bekennt sich Annalena Baerbock, die deutsche Aussenministerin, zwar dazu, dass die Ukraine zum «Haus Europa» gehöre, zugleich aber weicht sie konkreten Aussagen zu einem Beitritt aus.

Eine privilegierte Partnerschaft?

Das Zögern erklärt sich aus dem Konflikt zwischen der offensichtlichen Notlage der Ukraine und den sogenannten Kopenhagener Kriterien, anhand derer die Kandidatur möglicher neuer EU-Mitglieder bewertet wird. Dabei geht es im Kern um den Zustand von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die Achtung von Menschenrechten und den Schutz von Minderheiten, funktionierende Marktwirtschaft und Korruptionsbekämpfung. Zudem muss die EU-Gesetzgebung in die jeweilige nationale überführt werden.

Die Ukraine weist diesbezüglich zwar Fortschritte auf, wie etwa der Bertelsmann Transformation Index (BTI) über die Entwicklung der letzten Jahre festhält, hat aber gerade hinsichtlich des Marktmonopols ihrer Oligarchen und im Bereich der Korruptionsbekämpfung erheblichen Verbesserungsbedarf. Transparency International führt das Land im aktuellen globalen Korruptionsbarometer auf Platz 122 von 180. Klare Anzeichen dafür, dass ein EU-Beitritt von den verlangten Kriterien her höchstens langfristig infrage kommt. Andererseits wies das Korruptionsniveau bei anderen osteuropäischen Kandidatenländern noch kurz vor ihrem Beitritt vergleichbare Dimensionen auf.

Das Fazit, das sich aus dieser Konstellation ergibt, ist deutlich: Eine Kandidatur der Ukraine erfordert ein Abwägen zwischen klar definierten Kriterien und strategischen und geopolitischen Ambitionen. Mittelfristig könnte sich daraus ein Modell wie jenes einer privilegierten Partnerschaft ergeben, das der französische Präsident Emmanuel Macron in Aussicht stellt – nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die bereits existierenden Kandidaten Serbien, Nordmazedonien, Albanien und Montenegro. Eine solche «europäische politische Gemeinschaft» lehnt Kyjiw jedoch ab – und bezeichnet sie als «Zweite-Klasse-Behandlung» und «strategische Ambivalenz».