Abtreibung in den USA: Der wahre Kulturkampf

Nr. 26 –

Es werde keine Rückkehr in die grausamen Zeiten geben, als die Frauen auf den Küchentischen von «Engelmacherinnen» verbluteten, oder die Föten mit zurechtgebogenen Kleiderbügeln selbst abzutreiben versuchten. Sowie am Freitag bekannt wurde, dass das weit nach rechts gerückte oberste Gericht der USA das historische Urteil im Fall «Roe vs. Wade» aufgehoben hatte, zeigten sich liberale Kommentator:innen empört und zugleich bemüht, derlei Befürchtungen zu zerstreuen.

Fakt ist, dass zum ersten Mal seit 1973 das Recht auf Abtreibung nicht mehr von der US-Verfassung garantiert ist und auf gliedstaatlicher Ebene ausgehebelt werden kann. In neun Bundesstaaten wurde es schlagartig aufgehoben, Frauen wurden teils aus den Wartezimmern von Kliniken nach Hause geschickt. Weitere Staaten werden folgen, vielerorts ist eine Abtreibung auch nach einer Vergewaltigung nicht mehr legal. Wer im Stundenlohn ohne Kündigungsschutz in mehreren Jobs schuftet, um über die Runden zu kommen, kann nicht in einen anderen Bundesstaat reisen, um dort einen rechtmässigen Abbruch vorzunehmen. Diese Klassenfrage wird dazu führen, dass auch im 21. Jahrhundert wieder Frauen durch dilettantisch durchgeführte Abtreibungen – oder wegen Schwangerschaften – sterben werden. Von allen anderen Notlagen und Bevormundungen, in die Frauen geraten werden, ganz zu schweigen.

Man kann es grausame Ironie nennen, dass dieselben Entscheidungsträger:innen, die nicht aufhören, den «Schutz des Lebens» zu predigen, das Recht auf Waffenbesitz niemals antasten werden, was kürzlich in Texas zur Ermordung von neunzehn Primarschüler:innen und zwei Lehrerinnen geführt hat. Eine Abtreibung wird in Texas dagegen sogar nach einer Vergewaltigung nicht mehr erlaubt sein.

Dazu kommt: Der digitale Überwachungsapparat verschärft die Lage. «Dein Telefon weiss heute noch vor deinen Freundinnen, dass du schwanger bist», mahnt der «New Yorker». Was bedeute, dass Schwangere heute in mancherlei Hinsicht sogar schlechter dastünden als vor 1973. Bereits kursieren Aufrufe, Menstruations-Apps zu löschen: Unter einer restriktiven Gesetzgebung ist eine potenziell schwangere Frau eine potenzielle Kriminelle.

Und wie schon früher gilt: Auch wer eine Fehlgeburt erleidet, kann ins Visier der Justiz geraten. Wie beweisen, dass es keine illegale Abtreibung war? Die fiktional zugespitzte Reproduktionsdiktatur aus der Serie «The Handmaid’s Tale» wirkt nicht mehr so fern.

Man kann das Kippen des Abtreibungsrechts nicht anders als Hass und Krieg gegen Frauen nennen. Einmal mehr zeigt sich: Der rechte Kulturkampf ist nicht nur Drohgebärde und Buchstabe, sondern er realisiert sich ganz konkret an den Körpern von Frauen – wie auch an den Körpern von trans Menschen und Schwarzen. Und während uns hierzulande die Presse seit Jahren einlullt mit Schauergeschichten über eine in den USA grassierende «woke Cancel Culture», die zur Zerstörung der Existenz von Andersdenkenden führe, hat die Rechte in den USA eine Falle gebaut. Diese ist nun ein erstes Mal zugeschnappt. Sie wirft das Land fünfzig Jahre zurück und gefährdet ganz real die Existenz von Millionen von Frauen.

Der Putschist im Präsidentenamt Donald Trump, der drei der sechs reaktionären Richter:innen ernennen konnte, aber auch seine republikanischen Vorgänger haben gemeinsam mit der religiösen Rechten auf diesen Moment hingearbeitet. Letztlich geht es ihnen um ein Rückgängigmachen der Errungenschaften von 1968. Von einem solchen strategischen Zusammenraufen kann die Linke nur träumen.

Fakt ist aber auch: Sechzig Prozent der US-Amerikaner:innen befürworten das Recht auf Abtreibung. Ihre Fassungslosigkeit muss nun wieder Aktion werden. Auch ziviler Ungehorsam ist eine amerikanische Tradition. Das Recht auf Abtreibung sollte ein unumstössliches Grundrecht werden. Immerhin beginnt die US-Verfassung nicht mit Gott, sondern mit der emphatischen Ansage «We the People».