US-Entscheid gegen Abtreibung: In Texas radikalisiert sich der Widerstand

Nr. 26 –

Nach dem Verdikt des obersten US-Gerichts gegen die Abtreibung fragen sich Aktivist:innen in Texas, was schiefgelaufen ist – und sind entschlossen, sich das Freiheitsrecht zurückzuholen.

Demonstration für die Beibehaltung des Abtreibungsrechts in Austin
Der Druck von unten nimmt zu: Demonstration für die Beibehaltung des Abtreibungsrechts am Freitag in Austin. Foto: Sara Diggins, Keystone

Der Entscheid des US Supreme Court, das landesweite Abtreibungsrecht zu stürzen, hatte sich seit langem angekündigt. Wer sich mit dem Thema beschäftigt und die Machtausdehnung der religiösen Rechten in den vergangenen Jahren verfolgt hat, wusste, was kommt. Für Millionen von Menschen ist das Urteil vom vergangenen Freitag ein krasser Eingriff in ihre körperliche Selbstbestimmung. Eine tiefe Erschütterung ist es auch für diejenigen, die Schwangerschaftsabbrüche bislang ermöglicht haben. Ihr Tun ist in vielen Bundesstaaten nun gänzlich kriminalisiert.

Rockie Gonzalez sitzt am Tag nach dem Entscheid in einem Café in der texanischen Hauptstadt Austin und versucht, ihre Gefühle zu sortieren. Dazu gehören nicht nur Wut und Enttäuschung, sondern auch vorsichtige Hoffnung. Die Vierzigjährige hat sich Eiskaffee und ein Stück Blaubeerkuchen bestellt, beides bleibt jedoch zunächst unberührt. «Kette Rauchen gegen den Stress», sagt sie und lächelt gequält. Gonzalez ist Leiterin des Frontera Fund, einer Organisation, die im südlichsten Teil von Texas, dem Rio Grande Valley, Menschen mit Abtreibungswunsch finanziell, logistisch und emotional unterstützt. Vor allem undokumentierte Immigrant:innen, die sich, um der Grenzpolizei zu entgehen, oft nur in einem bestimmten Radius bewegen, haben bei Frontera Hilfe gefunden.

Rockie Gonzalez, Aktivistin
Rockie Gonzalez, Aktivistin

Seit vergangener Woche erreichen diese Menschen nur noch einen Anrufbeantworter, der über die aktuellen gesetzlichen Entwicklungen informiert. Nach dem Entscheid des Obersten Gerichts sind Abtreibungen in Texas de facto verboten. Wie viele andere Gruppen muss sich Frontera daran anpassen. Was das genau bedeutet, ist noch ungewiss. Manche Konsequenzen sind jedoch schon absehbar. Erzwungene Schwangerschaften und verzweifelte Eigenabtreibungen werden zunehmen, mit grosser Wahrscheinlichkeit auch Todesfälle. Gonzalez spricht von einer «faschistischen» Politik.

Vertiefung des Patriarchats

Sie ist mit dieser Einschätzung nicht allein. Und sie ist nicht allein mit dem Willen, sich dagegen zu wehren. Immer sichtbarer wird, was für eine Art der Gesellschaft den religiösen Rechten in den USA vorschwebt, eine Vorherrschaft des Christentums, eine Stärkung des Nationalismus und eine Vertiefung des Patriarchats, in dem Frauen in erster Linie die Funktion von Reproduktionsmaschinen zukommen soll. Immer deutlicher erkennbar werden auch die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Gesetzen, die von Republikaner:innen und Evangelikalen in den vergangenen Jahren angeschoben und vor allem in südlichen Bundesstaaten umgesetzt wurden. Die Vorgaben für Lehrkräfte, im Unterricht nicht mehr über Rassismus und Homosexualität zu sprechen, und die neuen Gesetze, die trans Menschen existenzielle Gesundheitsversorgung verwehren, werden auf ähnliche Weise wie die Abtreibungsverbote verkauft. Es geht um den «Schutz der Kinder» und den «Erhalt der Familie». Beides gilt allerdings nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen, unter bestimmten Bedingungen: Nach der Entscheidung des Supreme Court sprach die republikanische Abgeordnete Mary Miller aus Illinois von einem «historischen Sieg für das weisse Leben».

Ein ideologisches Projekt

So dystopisch die Situation, so gross ist mittlerweile das Gegennetzwerk. Im ganzen Land gibt es Gruppen, die Schwangeren dabei helfen, Abtreibungen vorzunehmen. In den von Republikaner:innen dominierten Bundesstaaten geschah das lange im Graubereich der Legalität – inzwischen jedoch ausserhalb. Zum Netzwerk gehören Organisationen wie Frontera, die für Betroffene die Kosten und den Transport übernehmen; Initiativen von Pilot:innen wie Elevated Access, die Flüge organisieren; Gruppen wie das Four Thieves Vinegar Collective, die Anleitungen zur Selbstherstellung von Abtreibungspillen veröffentlichen; Lokalpolitiker:innen, die neue Gesetze erarbeiten, die Abtreibende vor der Polizei schützen sollen; Anwält:innen, die kostenlose Beratungen anbieten; Ärzt:innen, die weiterhin Abtreibungen praktizieren; dazu viele Individuen, die privat helfen.

Bereits ist von der «Underground Railroad» die Rede, eine Anspielung auf das Schleuser:innennetzwerk im 19. Jahrhundert, das Sklav:innen bei der Flucht half. Der Begriff gehöre den Schwarzen Amerikaner:innen, sagt Gonzalez, weshalb sie ihn für unangebracht hält. Doch es gibt tatsächlich Parallelen: Das Risiko, das die Abtreibungshelfer:innen vielerorts eingehen, ist gewachsen – genau wie die Notwendigkeit zivilen Ungehorsams. Dass seit Jahrzehnten die Mehrheit der Bevölkerung Abtreibungsrechte befürwortet, macht zwar Hoffnung, ist aber nur bedingt etwas wert, solange viele Gerichte und Parlamente von Konservativen bis Rechtsextremen dominiert sind.

Der Entscheid des Obersten Gerichts gegen das Abtreibungsurteil «Roe v. Wade» von 1973 hat Konsequenzen, die extrem ungleich verteilt sind. Einerseits ist es eine Frage des Geldes: Reiche Menschen werden auch weiterhin an medizinische Betreuung gelangen. Andererseits ist es eine Frage des Standorts: Während sich in «blauen» – also von den Demokrat:innen dominierten – Bundesstaaten kaum etwas ändert, nimmt die Repression in den «roten» Staaten zu. Texas ist so etwas wie ein Labor der faschistoiden Politik. Zu Beginn der Pandemie verordnete der republikanische Gouverneur Greg Abbott den wenigen Kliniken, die überhaupt noch Abtreibungen anbieten, ein Ende dieser Tätigkeiten. Im September 2021 trat dann das «Herzschlaggesetz» in Kraft, das praktisch alle Abtreibungen nach der sechsten Woche untersagt – weit bevor viele Schwangerschaften festgestellt werden.

Zu einer perversen Spezialität dieser Regelung gehört, dass Bürger:innen dazu angehalten sind, Personen und Institutionen anzuzeigen, die Abtreibungen durchführen oder dabei helfen. Mindestens 10 000 US-Dollar Belohnung sind dafür versprochen. Mit der Entscheidung des Obersten Gerichts wird in Texas, wie in vielen anderen Bundesstaaten auch, demnächst ein neues Gesetz greifen, das noch restriktiver ist und jegliche Beteiligung an Abtreibungen illegalisiert. In Texas kulminiert ein ideologisches Projekt, das rechte Politiker:innen, Kirchen, Medien und Organisationen über Jahrzehnte verfolgt haben. Mit dem Supreme-Court-Urteil geht es allerdings nicht «zurück in die Vergangenheit», wie oft zu lesen ist. Die Überwachungsmöglichkeiten und die Polizeiaufgebote sind heute viel grösser als vor fünfzig Jahren.

Was schiefgegangen ist

Gonzalez kennt die reaktionären Haltungen aus nächster Nähe. Sie ist inmitten von ihnen im südlichen Texas aufgewachsen – mit einem evangelikalen Prediger als Vater. Als sie mit neunzehn schwanger wurde, fand sie in der Familie kaum Halt. Gonzalez wollte abtreiben, doch dafür war es zu spät. Ihre Schwangerschaft verbindet sie heute mit «Scham und Trauma». Kurz nach der Geburt ihres Kindes zog Gonzalez nach Austin, um ein neues Leben zu beginnen. Sie kam dort schnell mit Anarchist:innen und Feminist:innen in Kontakt, die ihr ein Gefühl von Zugehörigkeit vermittelten. In den letzten Jahren hat sie nicht nur den Frontera Fund aufgebaut, sondern auch den Posten der Vizedirektorin in der Graswurzelorganisation Austin Justice Coalition übernommen. Gonzalez – das strahlt sie aus – ist niemand, der sich einfach einschüchtern lässt. Sie hat Morddrohungen erhalten, sich mit Abtreibungsgegner:innen angelegt – keine politische Herausforderung sei bislang jedoch so gross wie die jetzige gewesen, sagt sie.

Mit jeder Zeitenwende stellt sich die Frage nach den Bedingungen, die sie ermöglicht hat. Was also ist schiefgelaufen? Warum konnte die christliche Rechte sukzessive entscheidende Institutionen übernehmen? Die kurze Antwort lautet: Weil man sie gelassen hat. Autor:innen wie Jenny Brown und Melissa Gira Grant haben in diversen Texten die Fehler der vergangenen Jahrzehnte aufgeführt: Während das Urteil «Roe v. Wade» 1973 nur durch den Druck aus der radikalfeministischen Bewegung möglich wurde, habe sich in der Folgezeit eine liberal-moderate Haltung durchgesetzt. Statt das Recht auf Abtreibungen mit Forderungen nach einer staatlichen Krankenkasse und freier Kinderbetreuung zu verbinden, um so eine grundsätzliche «Aufwertung von Care-Arbeit und Umverteilung von Vermögen» zu erreichen, so erklärt es Brown, sei das Thema entpolitisiert worden und habe an Priorität verloren.

Schon im Slogan «Pro Choice», mit seinem Fokus auf die individuelle Wahlmöglichkeit, verdichteten sich die Probleme: «Was ist die theoretische Möglichkeit der Wahl wert, wenn du dir den Zugang nicht leisten kannst?», fragt die Aktivistin Gonzalez. In ihren Augen haben jedoch nicht nur die führenden Politiker:innen der Demokrat:innen versagt. Auch viele linke Bewegungen und Organisationen hätten die Fortschritte für unverrückbar gehalten, den US-Institutionen wurde vertraut. Im Schatten dieser Passivität konnte sich die Rechte erfolgreich organisieren.

Bereit, Straftaten zu begehen

Um sich das Recht auf Abtreibung zurückzuholen, wird es Jahre, vermutlich gar Jahrzehnte der Gegenmobilisierung brauchen, da sind sich die Aktivist:innen einig. Ebenfalls einig sind sie sich darüber, dass dieser Kampf nicht durch Anwält:innen gewonnen wird, sondern über dauerhaften Druck von unten. Gefragt sind neue Taktiken und der Ausbau bestehender Allianzen. Wer in diesen Tagen mit Abtreibungshelfer:innen in Texas spricht, spürt allerdings auch eine tiefe Unsicherheit, wie all das genau aussehen könnte.

Offener als andere Aktivistinnen spricht Makayla Montoya-Frazier von der Notwendigkeit, Gesetze zu brechen. «Wir müssen kreative Wege finden, damit die Leute an Abtreibungen kommen», sagt sie. Wer sich im legalen Rahmen bewegen wolle, werde in dieser Angelegenheit nicht weit kommen. «Zur Not müssen wir in den Untergrund, von Social Media weg, unauffindbar werden», so die 22-Jährige am Telefon. Montoya-Frazier wohnt in San Antonio, südlich von Austin, und ist die Gründerin des Buckle Bunnies Fund, einer Gruppe, die mittlerweile in allen Grossstädten von Texas vertreten ist. Ihr Ziel ist nebst der konkreten Unterstützung von Frauen auch die Enttabuisierung von Abtreibungen. «Ich sehe Abtreibungen als ein öffentliches, soziales Gut», sagt Montoya-Frazier, die selbst drei Schwangerschaftsabbrüche erlebt hat und sich das Wort «abortion» mit einem Herz auf den linken Arm tätowieren liess. Zu ihrer Arbeit zählten auch Aufklärung und politische Bildung. Viele Menschen wüssten nicht, wie sicher medikamentöse Selbstabtreibungen mittlerweile seien. Montoya-Frazier beobachtet eine zunehmende Radikalisierung, vor allem in ihrer Generation. In den ersten drei Tagen nach dem Urteil hätten sich rund 300 neue Freiwillige beim Buckle Bunnies Fund gemeldet.

«Immer mehr Leute sind bereit, Straftaten zu begehen», sagt auch Gonzalez vom Frontera Fund in Austin, die genau aus dieser Entwicklung Hoffnung schöpft. «Ich habe in den zehn, fünfzehn Jahren, die ich das jetzt mache, noch nie so viel Aufmerksamkeit für Abtreibungsrechte erlebt.» Beide Frauen betonen, dass es in Zukunft noch mehr auf das solidarische Netzwerk zwischen den Bundesstaaten ankommen werde. Für abtreibungswillige Menschen müssen Wege geschaffen werden, aus Texas rauszukommen. Über bestimmte Aspekte ihrer Arbeit wird sie in Zukunft wohl öffentlich nicht mehr sprechen können. «Pressemitteilungen wird es dazu nicht geben», sagt Gonzalez.

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