Nordsyrien: Im Schatten der internationalen Aufmerksamkeit

Nr. 27 –

Die russische Regierung droht, im Uno-Sicherheitsrat gegen den weiteren Zugang für Hilfsgüter ins syrische Idlib zu stimmen. Die Menschen vor Ort warnen vor einer Hungersnot.

Ahmed Ali Sarhan lebt seit 2019 mit seiner Frau und vier Kindern im syrischen Idlib in einem Geflüchtetenlager, wenige Kilometer neben der türkischen Grenze. Arbeit gebe es hier kaum, sagt er; vielleicht alle vier, fünf Monate findet er für ein paar Tage etwas auf dem Bau. Deswegen braucht Sarhan Hilfe: Er hat von einer NGO eine Karte erhalten, auf die diese jeden Monat fünfzig Franken lädt.

Sarhan ist einer von rund vier Millionen Syrer:innen, die in Idlib auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Diese gelangt im Moment vor allem von der Türkei aus über die Grenze: Rund 800 Lastwagen transportieren jeden Monat Lebensmittel, Medikamente und Impfungen nach Nordwestsyrien. Die Route ist die Lebensader für die Menschen hier. Denn die Region wird von der Opposition kontrolliert; und das Regime von Baschar al-Assad verhindert seit Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 2011 mit wenigen Ausnahmen, dass Hilfe in die Rebellengebiete kommt. Seit August 2021 sind nur gerade 70 Lastwagen mit Hilfsgütern über die Frontlinie gelangt.

Resolution 2585

Nun aber könnte die Hilfe über die Türkei bald enden. Diesen Sonntag läuft die Uno-Resolution aus, die die Hilfe seit 2014 ermöglicht hat. Der Sicherheitsrat muss ihrer Verlängerung zustimmen – doch die russische Regierung droht, ein Veto dagegen einzulegen. Das hat diese zwar auch in der Vergangenheit immer wieder getan – doch meist stimmte sie am Ende trotzdem einer Verlängerung zu, allerdings mit Bedingungen. So darf nur noch über einen Grenzübergang Hilfe in Oppositionsgebiete geliefert werden statt wie ursprünglich über vier. Angesichts der veränderten geopolitischen Lage seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist jedoch zu befürchten, dass die Regierung die Drohung dieses Mal tatsächlich wahrmacht.

Für die Menschen in Idlib wäre das eine Katastrophe: «Es gäbe eine Hungersnot», sagt Sarhan. Und der stellvertretende Uno-Nothilfekoordinator, Mark Cutts, warnt, dass Menschen wegen Mangelernährung oder zu wenig Wasser sterben könnten, sollte die Resolution nicht erneuert werden. In einem gemeinsamen Brief von 32 nichtstaatlichen Organisationen an den Sicherheitsrat heisst es, dass eine Million Menschen, die derzeit einen Lebensmittelkorb vom Welternährungsprogramm erhalten, auf einen Schlag Zugang zu Nahrung verlieren würden.

Die Resolution 2585 ist das Fundament, auf dem die gesamte humanitäre Hilfe in Nordwestsyrien fusst: Sie erlaubt es verschiedenen Institutionen der Vereinten Nationen, Hilfsgüter in grossem Stil direkt in die Oppositionsgebiete zu liefern. Normalerweise muss die Uno ihre Operationen mit der jeweiligen Regierung eines Landes abstimmen – was in diesem Fall Syriens Assad-Regime wäre. Dank der Resolution kann die Uno die Zusammenarbeit internationaler und lokaler NGOs direkt vor Ort koordinieren: Das vereinfacht die Organisation und bietet den NGOs rechtlichen Schutz.

Dramatische Wirtschaftslage

Syrien ist für internationale Organisationen und Geldgeber ein kompliziertes Terrain. «Man muss mit verschiedenen bewaffneten Gruppen verhandeln», sagt Jomana Qaddour, Mitgründerin der NGO Syria Relief and Development. «NGOs haben nicht die Kapazität, dies ohne die Uno zu tun. Ihre Aufgabe ist es, Hilfe zu liefern, nicht, um all diese rechtlichen und institutionellen Hürden herumzunavigieren.» Fällt die Uno weg, wäre es deshalb schwierig, das aktuelle Hilfssystem zu ersetzen – vor allem kurzfristig.

Ein Ende der Resolution wäre auch deswegen verheerend, weil der Bedarf an Hilfe seit Ausbruch des Krieges noch nie so gross war wie heute. Zwar wird in vielen Teilen Syriens inzwischen nicht mehr aktiv gekämpft. Die Wirtschaftslage aber ist im ganzen Land dramatisch. Die Inflation ist seit Ausbruch der Wirtschaftskrise im Nachbarland Libanon 2019 auch in Syrien stark gestiegen; hinzu kamen die Coronapandemie und neue Sanktionen der USA. Heute leben 90 Prozent der Syrer:innen in Armut – in Idlib sind es gar 97 Prozent.

Weil in Idlib viele Transaktionen inzwischen in türkischer statt syrischer Lira bezahlt werden, hat die stark steigende Inflation in der Türkei den Preisdruck auch in Nordsyrien erhöht. Und zuletzt hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die Preise noch zusätzlich in die Höhe getrieben: «Stell dir vor, eine Gasflasche mit sieben Litern kostet heute rund vierzehn US-Dollar», sagt Familienvater Ahmed Ali Sarhan. «Das reicht uns vielleicht für gerade mal zwanzig Tage.»

Zweimal geflohen

Sarhan stammt aus einem Dorf im Süden der Provinz Idlib. 2012 war er in die Türkei geflohen, wo er sich bei der Uno für ein Programm zur Umverteilung in einen Drittstaat angemeldet hatte. Doch 2016 entschied er sich, nach Syrien zurückzukehren. Während damals in vielen Teilen Syriens noch aktiv gekämpft worden sei, sei die Situation in seinem Dorf im Süden der Provinz Idlib stabil gewesen, sagt Ahmed Ali Sarhan.

Das änderte sich drei Jahre später. Anfang 2019 versuchte das syrische Regime, mithilfe der russischen Luftwaffe die Provinz Idlib zu erobern. Sarhans Dorf kam immer wieder unter Beschuss. Irgendwann beschlossen er und seine Familie, erneut zu fliehen. Heute liegt ihr Dorf nur wenige Kilometer von der Frontlinie entfernt, und noch immer würden dort regelmässig Raketen einschlagen, sagt er. Deshalb lebt er nun im Geflüchtetenlager nahe der türkischen Grenze.

Wie Ahmed Ali Sarhan sind über die Hälfte der Menschen, die heute in Idlib leben, Binnenvertriebene. Idlib und das Umland von Aleppo sind die einzigen Teile Syriens, die heute noch von der Opposition kontrolliert werden. Immer dann, wenn das Regime wieder eine Enklave von den Rebellen zurückerobert hat, sind im Lauf der Jahre neue Geflüchtete nach Idlib gekommen. Deswegen sind hier so viele Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Hilfsgelder bleiben aus

Trotz der prekären Lage hat sich die internationale Aufmerksamkeit nach über zehn Jahren Syrienkrieg auf andere Krisen verschoben. Das hat bereits heute Auswirkungen: So sind die Spenden für die Gesundheitsversorgung in Nordwestsyrien laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International innert zehn Monaten um vierzig Prozent zurückgegangen. In der Folge mussten mehrere Spitäler schliessen: Zehn von fünfzig Krankenhäusern in Idlib hätten ihre Finanzierung verloren, so die Gesundheitsdirektion der Provinz.

Für Ahmad Ali Sarhan ist klar, was das alles für ihn bedeutet. Er will Syrien verlassen. Sein Dossier für eine Übersiedlung in einen Drittstaat liegt zwar noch immer bei der Uno. Doch sollte er einen entsprechenden Termin bei einer Botschaft erhalten, müsste er dafür in die Türkei einreisen, was für Syrer:innen in Idlib legal kaum noch möglich ist. Und sich über die Grenze schmuggeln zu lassen, kostet mehrere Tausend US-Dollar – Geld, das Sarhan nicht hat.