Syrische Erschöpfung: Ein Erdbeben wie tausend Luftangriffe
Das Beben war eine Katastrophe für die syrische Bevölkerung, die seit zwölf Jahren unter dem Bürgerkrieg leidet. Dass die internationale Hilfe sie erst Tage später langsam erreichte, ist ein Skandal.
«Wir wussten, diese Katastrophe ist grösser als wir. Wo war die internationale Hilfe? Wir warteten: Eine Stunde, zwei Stunden. Zehn Stunden, zwei Tage, drei Tage. Nichts», sagt Muhammad al-Schibli, Sprecher der syrischen Zivilschutzorganisation der Weisshelme.
9. Februar, drei Tage nach dem Erdbeben: Der erste Konvoi (sechs Lastwagen) mit Hilfsgütern überquert die türkisch-syrische Grenze ins Erdbebengebiet im Nordwesten des Landes.
11. Februar, fünf Tage nach dem Erdbeben: Die syrischen Weisshelme erklären ihre Rettungsmission für beendet. Von nun an können nur noch Tote geborgen werden.
13. Februar, eine Woche nach dem Erdbeben: Die Uno und das syrische Regime einigen sich darauf, zwei zusätzliche Grenzübergänge für Hilfe aus der Türkei nach Nordwestsyrien zu bewilligen. Insgesamt haben bisher 58 Lastwagen mit Uno-Hilfe Nordwestsyrien erreicht.
Ziad al-Saied dachte erst, es sei ein Flugzeugangriff, als das Spital in der nordsyrischen Stadt Harim zu beben begann, schliesslich waren Spitäler in den Oppositionsgebieten immer wieder Ziel von Bombardierungen durch die syrische und die russische Luftwaffe. Der Chirurg hatte Nachtschicht. Er erhob sich schnell und rannte mit seinen Kolleg:innen die Treppe runter.
Es war kein Luftangriff, sondern eines der stärksten Erdbeben in der Region seit Jahrzehnten, das bis heute über 40 000 Menschenleben in der Türkei und Syrien gefordert hat. Saied tat, was er auch nach Bombardierungen immer tat: weiterarbeiten. «Wir hörten nicht auf, bis es wieder dunkel wurde.» Erst gegen Mittag bemerkte eine Kollegin, dass seine Hand blutete.
Anders als die Luftangriffe sei das Erdbeben von Gott gekommen, sagt Saied. Doch in welcher Situation es ein Land und seine Menschen trifft, ist eine politische Frage. Genauso wie die Frage, was danach geschieht: Wohin gelangt Hilfe? Wer wurde gerettet? Wer hätte gerettet werden können, wäre rechtzeitig Hilfe gekommen?
Ein «frozen conflict»
Syrien, im Februar 2023. Der Machthaber Baschar al-Assad ist noch immer an der Macht, aber nicht im ganzen Land. Den Nordosten kontrolliert die kurdische PYD, im Nordwesten hält sich die von der Türkei protegierte islamistische Opposition. Syrien ist heute ein «frozen conflict»: ein Krieg, bei dem die Frontlinien auch in absehbarer Zukunft bleiben werden, ohne Sieger:innen, ohne politische Lösung und ohne Versöhnung.
Der Konflikt ist eingefroren, aber die Menschen werden mit jedem Jahr weiter zermürbt. Die humanitäre Lage ist heute so schlimm wie noch nie in den letzten zwölf Jahren. Neunzig Prozent der Syrer:innen leben unter der Armutsgrenze. Die Infrastruktur ist am Boden: Nur die Hälfte der Wasserversorgung und der Spitäler ist noch intakt. Seit September 2022 breitet sich die Cholera aus und konnte bis jetzt nicht eingedämmt werden.
«Die Situation der Menschen ist sehr schlecht», sagt Ziad al-Saied. Der Chirurg stammt aus der Stadt Sarakib südlich der Provinzhauptstadt Idlib. 2016, zu einer Zeit, als der Bombenkrieg des Regimes auf einem Höhepunkt stand, eröffneten er und seine Frau endlich das Privatspital, für das sie seit Jahren Pläne hatten. Doch nun unter anderen Vorzeichen: Alle anderen Krankenhäuser in der Stadt waren zuvor bei Luftangriffen zerstört worden.
2020 eroberte das Regime Sarakib, und die Familie musste Richtung Norden fliehen. Hier, in der letzten Enklave der Opposition, leben heute 2,9 Millionen Binnengeflüchtete aus ganz Syrien, viele von ihnen in Zeltlagern, die meisten ohne Arbeit. Neunzig Prozent der Menschen in der Region sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, die in den letzten Jahren trotz der sich verschlechternden Situation immer weniger wurde. «Syria fatigue» nennen Hilfsarbeiter:innen das Phänomen: Nach zwölf Jahren liegt das Interesse der Geberländer anderswo.
Betroffene Gebiete
Es war diese Region Syriens, die Gebiete rund um Idlib und der mehrheitlich kurdische Distrikt Afrin nördlich von Aleppo, die am schwersten von dem Erdbeben getroffen wurde: Über 4400 Tote wurden bisher gezählt und mehr als 8600 Verletzte. Das syrische Regime meldete mehr als 1400 Tote und über 2300 Verletzte. Die kurdisch dominierte autonome Regierung im Osten Syriens meldete sechs Tote und Dutzende Verletzte. Doch während Zehntausende Spezialist:innen in die Türkei flogen und Dutzende Flugzeuge Hilfsgüter nach Damaskus flogen, erreichte den Nordwesten überhaupt keine Hilfe.
«Ich verstehe es einfach nicht», sagt Muhammad al-Schibli, der das Pressezentrum der Weisshelme in Istanbul leitet. «Das war nicht das erste grosse Erdbeben auf der Welt, und die Uno weiss, was in solchen Situationen zu tun ist.» Die private Zivilschutzorganisation der Weisshelme mit über 3000 Freiwilligen hat über Jahre hinweg während der Bombenangriffe in den syrischen Oppositionsgebieten Verschüttete aus den Trümmern gerettet. «Nach einem Angriff schicken wir ein Team von acht Leuten los», sagt Schibli. «Aber nun waren Tausende Häuser zerstört. Wir wussten: Diese Katastrophe ist grösser als wir.»
Kein Suchgerät, keine Spürhunde
Sie mussten diese Botschaft so schnell wie möglich verbreiten – ohne Hilfe würden Tausende unter den Trümmern sterben, denn den Weisshelmen fehlte nicht nur Personal. Sie hatten kein Suchgerät, keine Spürhunde und viel zu wenige grosse Maschinen, um die teilweise mehrstöckigen Gebäude, die in sich zusammengefallen waren, abzutragen.
Offiziell gab die Uno an, die Strassen um den Grenzübergang Bab al-Hawa seien vom Erdbeben beeinträchtigt, deswegen setzte sie die Hilfslieferungen für drei Tage aus. Doch Schibli und viele andere zweifeln: «Warum kam dann der erste Konvoi nach drei Tagen durch? Die Uno hatte keinen Kontakt mit uns, die wir vor Ort waren. Woher wusste sie überhaupt, wie die Situation der Strassen ist? Wieso fuhren in den Tagen nach dem Erdbeben immer wieder private Autos mit Leichen von Syrer:innen, die in der Türkei gestorben waren, über die Grenze?»
Das Regime verkündete derweil, Hilfe von Damaskus auch in die Oppositionsgebiete zuzulassen. Ein Uno-Konvoi wurde allerdings von der in Idlib herrschenden islamistischen Miliz Hai’at Tahrir al-Scham (HTS) zurückgewiesen. Für die einen ein zynisches Beispiel dafür, wie die Konfliktparteien die Notlage der Bevölkerung für ihre eigenen Zwecke ausschlachten. Andere hingegen befürworten es, dass die HTS den Konvoi aus Damaskus zurückwies: Sie vertrauen dem Regime nicht, das in den Jahren des Krieges immer wieder die Verhinderung humanitärer Hilfe als Waffe einsetzte, und wollen verhindern, dass das Regime die ganze Kontrolle über Hilfslieferungen in die Oppositionsgebiete gewinnt.
Einig sind sich alle dabei, dass vor allem die grenzüberschreitende Hilfe aus der Türkei aufgestockt werden muss. Aber die ist kompliziert: Seit 2014 erlaubt ein Mandat des Sicherheitsrats der Uno, über verschiedene Grenzübergänge Hilfe direkt in jene Gebiete zu schicken, die nicht unter der Kontrolle von Präsident Baschar al-Assad stehen. Die Resolution muss alle sechs Monate erneut abgesegnet werden, und in den letzten Jahren hat Russland sie immer weiter aufgeweicht. Von ursprünglich vier zugelassenen Grenzübergängen ist heute nur noch einer für Uno-Hilfe offen: Bab al-Hawa zwischen der Türkei und dem Oppositionsgebiet in Nordwestsyrien.
Das Konstrukt wird von NGOs und Expert:innen immer wieder kritisiert: Die Uno würde sich dem politischen Druck Moskaus beugen. Ein Gutachten von Rechtsexpert:innen kam zum Schluss, dass die Uno auch ohne Mandat des Sicherheitsrats Hilfe über die Grenze schicken könnte. Die Entscheidung, nur mit der Zustimmung aus Moskau und Damaskus Hilfe zu leisten, ist auch – wenn nicht sogar in erster Linie – eine politische.
Am 12. Februar, sechs Tage nach dem Beben, entschuldigt sich Martin Griffiths, der Chef des Uno-Büros für humanitäre Angelegenheiten, in einem Tweet bei der Bevölkerung in Nordwestsyrien: «Wir haben die Syrer:innen bisher im Stich gelassen.» Doch egal, wie viel Hilfe jetzt kommen wird – für jene, die unter den Trümmern verschüttet blieben, kommt sie zu spät.
Bürokratische Hürden
Viele Mitglieder der türkischen, kurdischen und syrischen Diaspora versuchen zurzeit, ihre vom Erdbeben betroffenen Verwandten in die Schweiz zu holen – und sind dabei mit offenen Fragen und bürokratischen Hürden konfrontiert. Für eine Reise in die Schweiz ist ein Visum nötig. Man könne sich aber via «Fast-Track-Formular» beim Schweizer Konsulat in Istanbul melden, schreibt das Staatssekretariat für Migration (SEM). Dieses Vorgehen sowie die Entsendung von vier Mitarbeitenden in die Türkei sollen die Visavergabe beschleunigen. Bis Dienstagmittag seien rund 850 Gesuche eingegangen.
Eines der Probleme dabei: Auf dem Formular muss die Passnummer eingetragen werden – was für Menschen, deren Dokumente unter den Trümmern liegen, kaum möglich sein wird. Man sei «in engem Kontakt mit den türkischen Behörden, um die rasche Ausstellung von Notfallpässen» zu ermöglichen, schreibt das SEM dazu. Von diesem zögerlichen Vorgehen sind nicht nur Betroffene enttäuscht. Auch die SP sowie die Grüne Partei fordern unbürokratische Hilfe für die Menschen in Not.