Auf allen Kanälen: Hautnah dran

Nr. 28 –

Zwei Medienexzesse aus dem analogen Zeitalter werden neu aufbereitet: der Fall des belgischen Kindermörders Dutroux und die Geiselaffäre von Gladbeck. Wie wirken die TV-Bilder von damals?

Marc Dutroux

Gleiche Technik, ganz andere Wirkung. Fast zeitgleich erschienen kürzlich zwei sehr ähnlich aufgebaute True-Crime-Dokumentationen. Beide behandeln mediale Grossereignisse aus einer Zeit, bevor Internet und Social Media Liveberichterstattungen grundlegend verändert haben. Und beide arbeiten fast ausschliesslich mit chronologisch montierten originalen TV-Aufnahmen, verzichten also auf Kommentare, Erklärungen, nachträgliche Einordnungen.

Der Vierteiler «Unfassbar» von Arte rekonstruiert den Fall des Belgiers Marc Dutroux, der 1996 mehrere Mädchen und junge Frauen entführte, auf unfassbare Art quälte, vergewaltigte und tötete, assistiert von seiner Frau und weiteren Mittätern. Nach seiner Verhaftung trieb die Frage, ob der einschlägig vorbestrafte Dutroux Teil eines Kinderpornografie-Netzwerks war, Belgien um. Gleichzeitig entlarvte die im Wortsinn hautnahe mediale Berichterstattung gravierende Ermittlungspannen.

Live im Fluchtauto

«Unfassbar» ist in seiner Machart nicht ganz konsequent und enthält auch ein paar Interviews mit Ermittlern, die man heute dazu befragt, wie sie den Fall damals wahrnahmen. Dagegen verzichtet der Netflix-Film «Gladbeck» ganz auf Gegenwart. Der Regisseur Volker Heise montierte TV-Bilder, Fotografien und andere visuelle Zeugnisse der 54-stündigen Geiselnahme von Gladbeck zum unkommentierten Dokument eines medialen Taumels und Voyeurismus sowie – auch hier – einer eklatanten polizeilichen Kopf‌losigkeit.

Was direkt ins Auge sticht, wenn man «Unfassbar» und «Gladbeck» vergleicht, ist die fundamental unterschiedliche Rolle der omnipräsenten Medien. Im Fall Dutroux wurden sie nach dem Verschwinden zweier Mädchen von den Opferfamilien eingespannt, weil diese mit den Ermittlungen unzufrieden waren. Die Eltern hielten Pressekonferenzen im Wohnzimmer ab, richteten Aufrufe an die Bevölkerung. Später kamen Angehörige von weiteren Vermissten dazu. Die TV-Bilder waren sehr nahe dran an Leid, Augenringen, verzweifelt kettenrauchenden Vätern, wirken jedoch kaum voyeuristisch. Journalist:innen und Kameramänner treten im Dienst der Aufklärung und als Verbündete der Eltern auf, die Polizei erscheint unfähig und untätig.

Anders bei der Geiselnahme, die 1988 in einer Bankfiliale von Gladbeck ihren Anfang nimmt. Hier verbrüdern sich Journalist:innen und Fotograf:innen nicht mit den Opfern, sondern mit den beiden Geiselnehmern, interviewen, fotografieren und filmen sie ausführlich, geben ihnen gar Regieanweisungen. Ein Moderator von RTL telefoniert live aus seiner Talkshow mit einem Geiselnehmer; ein Chefredaktor des Boulevardblatts «Kölner Express» fährt eine Strecke im Fluchtauto mit, nachdem ein Geiselnehmer bereits eine Geisel ermordet hat. Auch die Öffentlich-Rechtlichen sind an vorderster Front dabei. Ein Kordon aus Medienmenschen und medial angelockten Gaffer:innen umgibt die zu Stars gehypten Geiselnehmer auf ihrer blutigen Irrfahrt, die am Ende drei Tote fordert.

Kollektiver Rausch

Während die Dokumentation zu Dutroux eine nachdenkliche Melancholie auslöst, enerviert und entgeistert die neu zusammengeschnittene Berichterstattung zur Geiselnahme von Gladbeck zunehmend. Die ungefilterten Bilder der Geiselnahme haben paradoxerweise einen «Unwirklichkeitseffekt», wie in der FAZ analysiert wurde: Die «Bilder des Wirklichen» schauten fiktional zurück.

Das Dutroux-Drama wirkt dagegen bis heute nur allzu real. Das könnte damit zu tun haben, dass wir hier den Täter und seine Taten aus der Perspektive der Eltern der toten Kinder und der überlebenden Opfer sehen. Die intensive mediale Berichterstattung aus Sicht der Leidtragenden führte damals zu konkreten politischen Aktionen: zu einer mächtigen Volksbewegung, die gegen marode Behörden und Ermittlungsinstitutionen auf die Strasse ging. Dagegen wirken die Gaffer:innen in «Gladbeck» ähnlich leer, zynisch, aufgeputscht wie die Geiselnehmer und ihre medialen Helfer:innen. Die Netflix-Doku zeigt sie alle vereint in einem kollektiven Rausch. Auch dieser Rausch trägt zur Surrealität der Bilder bei. Er erfasste die Menschen lange vor den weiteren medialen Eskalationen im Internetzeitalter.

«Unfassbar» läuft in der Arte-Mediathek, «Gladbeck» auf Netflix.