Alarme Phone Sahara: Europas letzte Grenze
Seit Europa sich in Richtung Süden abschottet, verlieren die Menschen im Sahel ihre Bewegungsfreiheit. Und die Reiserouten durch die Sahara werden riskanter. Vom Niger aus versuchen Aktivist:innen, dem Sterben entgegenzuwirken.
«Seit seiner Entstehung vor Jahrhunderten lebt Agadez von der Durchreise von Menschen», sagt Moctar Dan-Yayé. Im Zentrum des Niger bildet die Stadt einen Knotenpunkt verschiedener Reiserouten, die Küstenstädte am Mittelmeer mit den Handelszentren südlich der Sahara verbinden. Die grösste Wüste der Welt sei stets mehr Verbindung als Barriere gewesen. Das veränderte sich im letzten Jahrzehnt zunehmend. Spätestens ab 2015, als im maltesischen Valletta der europäisch-afrikanische «Gipfel zur Migration» abgehalten wurde. «Der Niger wurde dort gewissermassen zu einem Gendarmen Europas auserkoren», sagt Dan-Yayé, «und Agadez zur letzten Grenze Europas.»
Moctar Dan-Yayé ist Presseverantwortlicher der Initiative Alarme Phone Sahara (APS). Er macht an diesem Juliabend einen etwas ausgelaugten Eindruck, als er sich auf ein Sofa setzt. Gleich wird er im Gemeinschaftsraum einer Genossenschaftsüberbauung in Kriens bei Luzern das zwölfte Referat einer Infotour durch grössere und kleinere Orte in Deutschland und der Schweiz halten. Der 38-Jährige ist gekommen, um über die Arbeit von APS zu berichten, das er vor fünf Jahren gemeinsam mit Aktivist:innen aus mehreren westafrikanischen und europäischen Ländern gegründet hat. Der Reiseaufwand lohne sich, sagt er, schliesslich müsse das Bewusstsein dafür geschärft werden, was die von Europa forcierte Politik der Grenzauslagerung in den Sahelstaaten tatsächlich bewirke.
Plötzlich problematisiert
Der Deal, auf den sich die Teilnehmenden des Gipfels in Valletta einigten, lautete: Afrikanische Regierungen erhalten über Jahre hinaus Gelder aus einem EU-Treuhandfonds. Im Gegenzug lassen sie sich ins europäische «Migrationsmanagement» einbinden. Insbesondere der Niger, gemäss diversen Auflistungen eines der ärmsten Länder der Welt, wurde als zentrales strategisches Partnerland erkannt.
«Begriffe wie ‹irreguläre› oder ‹illegale› Migration waren im Niger zuvor kaum geläufig», sagt Dan-Yayé. Länderübergreifende Mobilität, vor allem saisonale Migration, sei in der Region tief verankert. Vom Niger aus führen Reiserouten sowohl in Richtung Norden, aber auch in den Süden und den Südwesten, ins westliche Afrika. «Plötzlich wurde die Migration problematisiert», sagt Dan-Yayé. «Dabei will nur ein Bruchteil jener, die vom Niger aus nach Nordafrika gehen, von dort übers Mittelmeer nach Europa.»
In Agadez, einer Stadt mit etwa 125 000 Einwohner:innen, hat das grosse Auswirkungen. Denn unter dem europäischen Druck wurden seit 2015 ganze Wirtschaftszweige wegen Menschenschmuggel unter Verdacht gestellt und kriminalisiert. So wurden seither mehrere Hundert Menschen, etwa Lastwagenfahrer, verhaftet und teils monate- oder sogar jahrelang ohne Anklage inhaftiert. Die lokale Ökonomie, von Transportunternehmen über die Hotellerie bis hin zum Warenhandel, brach ein.
Vor allem aber zwingen die verstärkten Grenzkontrollen die Menschen, die von Agadez aufbrechen, auf zunehmend lebensgefährliche Umwege. Wie viele Menschen für immer in der Wüste verschwinden, weil sie sich verirren oder weil sie von den Ladeflächen überfüllter Pick-ups fallen, lässt sich schwer beziffern. «Die Todeszahlen auf der Passage durch die Sahara dürften heute mindestens so hoch sein wie jene auf dem Mittelmeer», sagt Dan-Yayé.
Eigene Konzepte zur Hilfe
Das Hauptquartier von Alarm Phone Sahara haben er und seine Mitstreiter:innen in Agadez eingerichtet. Ursprünglich hatten sie vorgehabt, eine telefonische Hotline aufzubauen für Menschen, die in der Wüste in Notsituationen geraten – genau wie die Schwesterorganisation Watch The Med Alarm Phone, die auf dem Mittelmeer Seenotrettungen koordiniert.
Bald habe sich aber herausgestellt, dass die Voraussetzungen in der Sahara andere sind: «In einem Grossteil der Wüste gibt es gar kein Telefonnetz», erklärt Dan-Yayé, «und es hat auch praktisch niemand ein Satellitentelefon zur Verfügung.» Daher mussten sie neue Konzepte entwickeln, um dennoch handeln zu können. «Wir haben ein Netz von Beobachtern aufgebaut, die entlang der Routen im Grenzgebiet leben und von dort aus über Notfälle informieren können», sagt Dan-Yayé.
Für ein engmaschiges Beobachter:innennetz und gross angelegte Rettungsaktionen fehlen APS dennoch die Kapazitäten. Daher setzen die Aktivist:innen unter anderem auf Sensibilisierungskampagnen für Reisende: «Wir ermutigen die Leute nicht, sich auf möglicherweise gefährliche Routen zu begeben», sagt Dan-Yayé, «aber wir entmutigen sie auch nicht. Denn sie haben alle ihre eigenen Beweggründe.» Auf Flyern gibt APS Tipps für die Reise durch die Wüste, wo es tagsüber extrem heiss und nachts extrem kalt ist. Und es veranstaltet Treffen, wo Reisende eine richtige Mahlzeit erhalten und Erfahrungen austauschen können.
Bislang sei ihre Arbeit noch nicht von der Kriminalisierung betroffen, sagt Moctar Dan-Yayé. Das Gesetz gegen Menschenschmuggel von 2015 stelle trotzdem eine ständige Gefahr dar: «Wir wissen selbst nicht genau, wann wir mit unserer Arbeit gegen das Gesetz verstossen.» Derweil dokumentiert die Gruppe die Migrationsbewegungen und die Menschenrechtsverletzungen des Grenzregimes – vor allem die Pushbacks, die der algerische Staat seit Jahren routinemässig macht. Die inoffiziellen Abschiebungen finden nachts statt, und sie enden direkt an der Grenze, mitten in der Wüste, am sogenannten Point Zéro.
Menschen, die in algerischen Städten zusammengetrieben und in Lastwagen an diese Stelle verfrachtet wurden, müssen von dort rund fünfzehn Kilometer in die nächste nigrische Ortschaft gehen – ins winzige Dorf Assamaka. Sie kommen dort erschöpft, teils verletzt und oft traumatisiert an. APS hat in Assamaka eine kleine Niederlassung, wo Ankommende das Wichtigste für den Moment vorfinden, etwa ein funktionierendes Telefon. Über 25 000 Menschen sind gemäss der Organisation allein im letzten Jahr auf diesem Weg abgeschoben worden. Wie viele Menschen auf dem Fussmarsch sterben, lässt sich nur schwer eruieren.
Kein Hilfe trotz EU-Millionen
Hunderte Millionen Euro hat die nigrische Regierung seit 2015 aus dem EU-Treuhandfonds bezogen. «Das Geld hat aber kaum jemandem geholfen», so Dan-Yayé. Von der versprochenen «Entwicklung» sei nichts zu spüren – im Gegenteil. Die negativen Folgen der Mobilitätseinschränkungen seien viel grösser. «Und faktisch kommt ein grosser Teil des Geldes einfach wieder nach Europa zurück», bilanziert er.
Für die verstärkten Grenzkontrollen müssten Kontrollinstrumente wie Waffen oder technische Infrastruktur gekauft werden. Diese würden unter anderem in Europa hergestellt – und folglich auch dort gekauft. «Ja», sagt Moctar Dan-Yayé in seinem ruhigen und sachlichen Ton, «natürlich ist die europäische Grenzauslagerung eine Form des Neokolonialismus.»