Hito Steyerl: «Die Realität funktioniert wie Reality-TV, und jeden Tag kommt eine neue Folge»
Krawall auf sozialen Plattformen hat mehr mit dem Kapitalismus als mit Streitlust zu tun. Und statt nur über kulturelle Fragen sollten wir über soziale Ungleichheit reden, sagt die Gegenwartskünstlerin Hito Steyerl. Die WOZ hat sie am Filmfestival Locarno zum Interview getroffen.
WOZ: Hito Steyerl, wo sehen Sie als Künstlerin heute den Kulturbetrieb – nach zweieinhalb Jahren Pandemie und vor einer möglichen Energiekrise im kommenden Winter?
Hito Steyerl: Die Frage ist schon: Wie geht das alles weiter? Wie wird der Kunst- und Kulturbereich in Zukunft operieren? Dabei gibts ja noch ganz andere Felder als die von Ihnen erwähnten – zum Beispiel Web3, Blockchain, Kryptowährungen, NFT, also Non-Fungible Tokens. Es geschehen momentan massive Veränderungen, Verschiebungen und Verwerfungen. Durch die Pandemie, den Krieg und eine mögliche Energiekrise geraten alle räumlichen, aber auch ökonomischen Orientierungspunkte durcheinander, auch die Lieferketten, Terminpläne, eigentlich alles. Und ich denke, dass sich zumindest in Deutschland die Möglichkeiten für Künstler:innen dramatisch verschlechtern werden. Über die Pandemie hinweg ging das noch halbwegs, zumindest für kommerzielle Akteure. Aber jetzt scheint der Moment gekommen, um im Kulturbereich radikale Kürzungen zu realisieren. Die Leute werden sich andere Strukturen überlegen müssen.
Während der Pandemie hat der Staat Überlebenshilfe geleistet, nicht nur im Kultursektor. Jetzt befürchtet man einen Backlash, nicht zuletzt, weil wegen der russischen Invasion in die Ukraine überall viel Geld in die Aufrüstung fliesst.
Es ist jedenfalls abzusehen, dass die Kultur einer der ersten starken Einsparbereiche sein wird. Denn ich glaube auch: Die Politik akzeptiert jetzt, dass diese Krise von Dauer ist. Und dass es kein Zurück mehr gibt zum vorherigen Zustand.
Falls es im Winter grössere Stromausfälle gibt, könnte vieles zum Stillstand kommen – Kryptowährungen, Kameras … Haben Sie schon überlegt, eine mechanische Kamera zu bauen oder zu besorgen, um ohne Strom filmen zu können?
Ich würde wohl eher schauen, wo ich Strom herbekomme. Ist ja kein Hexenwerk.
Ebenfalls sehr stromabhängig sind Algorithmen. Ihre Installation «SocialSim», die während des Filmfestivals in Locarno gezeigt wurde, findet ein überraschendes Sinnbild: Algorithmen sind wie manisch tanzende Cops.
Ja. Aber in «SocialSim» geht es eben auch um eine soziale Choreografie. Dadurch, dass diese Cop-Animationen von Algorithmen gesteuert werden, vollführen sie Bewegungen im sozialen Raum. Gesteuerte Bewegungen. Wenn man sich das so vorstellt, sieht man plötzlich, dass sich das verändern lässt, indem man die Choreografie verändert oder die Parameter der Choreografie. Das Verhältnis der Körper im Raum zueinander lässt sich verändern.
«SocialSim» macht also deutlich, dass sich programmierbare Algorithmen immer auch verändern lassen. Warum passiert das so selten?
Na ja, das Problem ist doch, dass man Algorithmen grundsätzlich als Geheimnisse betrachtet. Aber eigentlich sind sie keine. Sie können zwar geheim gehalten werden, und das wird auch oft getan. Aber im Grunde sind es einfach nur Formeln und Funktionen. Und natürlich kann man in diesen Formeln und Funktionen theoretisch alles verändern. Mit «SocialSim» soll zumindest angedeutet werden, dass das geht: Die Parameter lassen sich verändern, die soziale Technologie lässt sich ändern.
Dann ist vor allem unser fehlendes Wissen über die Funktionsweise von Algorithmen das Problem?
Es gibt ja auch Benutzeroberflächen. Wir haben das in der Installation so dargestellt, dass man im Grunde nur Regler verschieben muss, und schon verändert sich die ganze Choreografie. Es kommt also auf die Verfügbarkeit dieser Oberfläche an und wie benutzerfreundlich sie ist.
Dabei wird auch klar, dass Algorithmen nicht per se «gut» oder «böse» sind. Das erinnert mich an eine frühere Bemerkung von Ihnen zum Sextanten: Sie beschreiben ihn als Instrument, mit dem man sich auf See orientieren konnte, das den Weg bereitete für das lineare Sehen in der Kunst. Gleichzeitig ermöglichte er aber auch die Verbreitung von Kapitalismus und Kolonialismus.
Der Algorithmus ist eh nicht «böse», er ist oft einfach intransparent. Wir wissen schlicht nicht genau, wie etwa der Facebook-Algorithmus funktioniert. Und das gilt eigentlich für die meisten grossen sozialen Simulationen. Facebook ist eine Simulation, die versucht, die User aufs Genaueste zu berechnen und zu identifizieren, damit man ihre zukünftigen Kaufentscheidungen vorhersagen kann.
Aber ist Facebook nicht vor allem eine asoziale Simulation, die auf Streit und auf Shitstorms programmiert ist?
Erst mal versuchen die einfach, Werbeanzeigen zu verkaufen. Das ist das Wichtigste für sie. Natürlich ist die Simulation auch disruptiv, weil Aufmerksamkeit am ehesten durch Krawall und Polarisierung gebunden wird, und das hat dann soziale Effekte.
Der Krawall ist nur soziales Mittel zum Verkaufszweck?
Genau.
Und warum wird zum Beispiel der Facebook-Algorithmus so selten gehackt?
Ich weiss es nicht. Ich habe mich noch nie damit beschäftigt, wo man da anfangen könnte, nehme aber an, dass es schwierig ist. Wir haben uns, zusammen mit den Kollegen von Total Refusal, die sich im kommerziellen Gamebereich bewegen, kürzlich gefragt: Wer kennt eigentlich den gesamten Code von GTA, von «Grand Theft Auto», diesem berühmten Computerspiel? Vielleicht kennt niemand den ganzen Code, vielleicht gibts den auch gar nicht in dieser Form.
Kein Zauberer hinter den Kulissen, der alles im Griff hat?
Es funktioniert ja. Vielleicht kann man das wirklich mit dem Sextanten erklären: Dahinter steckt eigentlich eine komplexe Mathematik. Man muss die Sternpositionen kennen und weitere Astronomiekenntnisse haben und wirklich viel rechnen. Heute benutzen die Leute keinen Sextanten mehr, sondern GPS auf dem Handy. Dabei verschwindet die ganze komplexe Technologie, aber die Leute können sich orientieren, ohne rechnen zu müssen.
Und was wäre nun der Link zu den Algorithmen?
Für viele Algorithmen gibt es keine Open-Source-Tools. Das heisst, wenn sich die User nicht wirklich sehr gut auskennen, dann wissen sie nicht genau, wie ihre Orientierung funktioniert. Jemand anderer scheint den Sextanten zu halten und schickt sie auf irgendeiner konfusen Karte herum.
Womit wir schon fast bei den Verschwörungstheorien wären. Auch diese gelten gemeinhin als zerstörerisch, andererseits haben sie auch eine soziale Funktion.
Die Disruption der Verschwörungstheorien besteht zu einem guten Teil darin, dass alte gemeinsame Standards des Weltverständnisses aufgebrochen werden. Das meine ich erst mal neutral: Diese Standards waren ja womöglich verzerrt, unfair und so weiter. Aber was nun entsteht, ist ein zersplittertes Soziales, in dem Leute völlig verschiedene und inkompatible Weisen haben, die Welt zu verstehen. Für die Plattformen ist das lukrativ, weil sich die Leute dann streiten, und das gibt viele Klicks. Aber natürlich ist das insgesamt nicht besonders hilfreich. Diese Entwicklung ging ziemlich schnell, würde ich sagen. Sie hat weniger als fünfzehn Jahre gedauert.
Wann und wo haben Sie das zuerst beobachtet?
Zum ersten Mal eine komplett andere Weltsicht habe ich miterlebt, als ich 1999, kurz nach dem Ende der EU-Sanktionen, nach Serbien gekommen bin. Da habe ich festgestellt, dass dort eine komplett andere Medienwahrnehmung, ein komplett anderes Weltverständnis herrscht. Ich war wirklich überrascht. Dann kam ich nach Bosnien und fand dort mindestens drei, wenn nicht fünf verschiedene, nochmals andere Bubbles oder eben Weltverständnisse vor.
Können Sie das noch etwas ausführen?
Es ging um den Nato-Angriff während des Jugoslawienkriegs und wie man ihn versteht, wer alles dafür verantwortlich gemacht wurde. Da gabs ungeheuer viele Verschwörungstheorien darüber, wer dahintersteht, sehr oft auch mit religiösem und esoterischem Einschlag. Heute würde man sagen: Querdenker. Es ist kein Zufall, dass sich der Kriegsverbrecher Radovan Karadzic als Kräuterheiler für «menschliche Quantenenergie» getarnt hat. Da habe ich zum ersten Mal direkt gesehen, wie das Zerbrechen eines gemeinsamen Weltverständnisses und der Krieg miteinander zusammenhängen. Und jetzt sehe ich, wie sich das auch innerhalb der westlichen Gesellschaften sehr schnell verbreiten kann: diese geschlossenen Filterblasen, Querdenkerei etc.
Was kann man gegen die Bubbles tun?
Wie wärs mit Strom abschalten? Dann könnten wir ja mal schauen.
In letzter Zeit bekam man den Eindruck, dass wir alle auf die falschen Schauplätze fixiert sind. Trump zum Beispiel: Jahrelang wurde jeder Satz von ihm aufgesogen und kommentiert, auf Kosten anderer Dinge, die womöglich wichtiger gewesen wären.
Es gibt halt diese Aufmerksamkeitsattraktoren, die wie schwarze Löcher wirken. Das hat auch damit zu tun, dass die Wiedergabe von Realität immer mehr wie eine Fernsehserie funktioniert, wie ein endloses Spektakel. Die Realität als Reality-TV – und jeden Tag kommt eine neue Folge. Das bedeutet auch: Es müssen immer neue Höhepunkte geliefert werden. Das ist Teil dieser Aufmerksamkeitsökonomie.
Da wir erwarten, dass die Realität wie eine Fernsehserie funktioniert, behandeln wir sie auch als solche – ein weiteres Thema Ihrer Installation «SocialSim».
Genau. Aber mich hat vor allem die Grammatik interessiert. Die Grammatik dieser Fernsehserienankündigungen und Zusammenfassungen – mit den Formeln «previously in the series», «was bisher geschah». Weil das auch so schön ökonomisch ist. Man muss die einzelnen Folgen oder den Film eigentlich gar nicht mehr drehen, man fasst sie nur noch zusammen. Das kostet auch viel weniger. Man kann einfach erzählen: Das und das ist passiert. Und das und das wird passieren. Und man erzählt das dann nur noch in Ankündigungen und in Zusammenfassungen von Höhepunkten. Das ist ja nicht zufällig ein ganzes Youtube-Genre: Leute fassen «Game of Thrones»-Episoden zusammen und kriegen so Klicks. Das ist so eine Art Zweit-, Dritt-, Viertverwertung der Serie.
«Nichts Klares erkennen zu können, ist die neue Normalität», haben Sie schon vor Jahren geschrieben. Darauf kann man als Künstlerin auf zwei Arten reagieren. Entweder man versucht, erst recht möglichst verständlich zu sein – oder man sagt, okay, dann liefere ich einfach die delirierende Kunst zu dieser delirierenden Realität. Wozu tendieren Sie?
Ich will natürlich beides! Aber diese behauptete Unverständlichkeit ist oft auch bloss ein Marketingtrick: Das Delirium ist ziemlich verständlich, wenn man die materiellen Grundlagen betrachtet.
Was auffällt, wenn man sich im Museum oder in Galerien umschaut: Die Leute bleiben oft nur dreissig bis vierzig Sekunden vor einem Video stehen. Auch darauf kann man reagieren: indem man nur noch Kurzfutter produziert oder indem man versucht, die Leute dazu zu bewegen, länger stehen zu bleiben. Was machen Sie?
Definitiv das Zweite. Aber auf der anderen Seite ist es auch okay, wenn die Leute wieder weggehen. Eine Installation ist ja kein Gefängnis.
Ist diese mangelnde Aufmerksamkeit keine Kränkung?
Das muss einem ein bisschen egal sein. Ich bin nicht primär auf das Publikum ausgerichtet. Natürlich möchte ich, dass es den Menschen, die meine Werke anschauen, einigermassen gut geht. Aber der Gegenstand ist mir schon wichtiger.
So ein Gegenstand Ihrer Kunst sind immer auch soziale Fragen. Ein Satz von Ihnen, der bei mir hängen geblieben ist: Die Rede von Kulturen ersetze immer mehr die Rede von Klassen, aber nicht deren Wirkmacht. Können Sie das erläutern?
Wenn man Kultur als das versteht, was massgeblich Identitäten formatieren soll, dann denke ich, dass die Konzentration auf kulturelle Fragen sehr oft ökonomische Ungleichheit verdrängt. Dass die Rede von der Kultur die Diskussion ökonomischer Ungleichheit verdrängt.
Verdrängt?
Wenn jemand aus einer Migrantenfamilie stammt, lässt sich daraus mittlerweile nicht mehr alles über die Klassenzugehörigkeit, über den Habitus, über die Alltagsrealität erschliessen. Kann, muss aber nicht. Die Frage ist: Was können kulturelle Kategorien überhaupt aussagen? Oft sind das einfach bestimmte Alleinstellungsmerkmale, kulturelle Differenzen, die heute oft schlicht als Waren gehandelt werden können. Immer unter der Prämisse, dass gleichzeitig die ökonomische Ungleichheit ausgeblendet bleibt.
Dazu passt, dass auch in vielen Diversity-Diskussionen um Fragen von Klasse und ökonomischer Ungleichheit ein Bogen gemacht wird.
Ja. Und es ist ja mittlerweile oft Ausweis eines Lebensstils der oberen Mittelklasse, solche Diversity-Fragen zu pflegen und in den Vordergrund zu stellen, ohne Systeme wie etwa den Plattformkapitalismus oder das Absaugen von Daten auch nur ansatzweise infrage zu stellen. Dabei sind beide Phänomene engstens miteinander verknüpft.
Inwiefern?
Wir haben heute so viele Firmen und Konzerne, die Diversity-Workshops anbieten und die ihre Personalpolitik neu organisiert haben. Wenn ich in einen Apple-Store gehe, bin ich jeweils fast schon schockiert, weil ich das Gefühl habe, dort werde das Personal unterdessen mit einer Pantone-Farbkarte ausgewählt. Es wird geschaut, dass möglichst von jedem Hautton jemand vertreten ist. Das ist schon richtig. Auf der einen Seite. Aber wenn das alles ist, dann ist es wirklich dystopisches «Diversity Washing». Man verlässt sich auf die Zurschaustellung sogenannter Identität. Anstatt zu fragen, wie Apple notorisch Steuern vermeidet und sich somit aus der Finanzierung staatlicher Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsysteme ausklinkt.
Können wir trotz unserer alltäglichen Eingebundenheit in diesen digitalen Kapitalismus handlungsfähig bleiben?
Hoffentlich bleiben wir handlungsfähig! Die Kapitalisten selber sind ja durchaus auch handlungsfähig, das kann man auch mal sagen.
Und hinter denen sollten wir nicht zurückbleiben.
Ja. Und manchmal muss man diese Handlungsfähigkeit auch einfach erfinden. Diesen Handlungsspielraum schaffen, indem man ihn einfach behauptet. Auch wenns ihn vielleicht erst mal gar nicht gibt.
Der Handlungsspielraum als notwendige Fiktion?
Genau. Manchmal in Kinofilmen, wenn Leute gefesselt sind mit Seilen, dann bewegen sie ihre gebundenen Hände so ein ganz kleines bisschen. Und wenn sie Glück haben, dann lockern sich so die Fesseln. Man könnte ja auch gleich aufgeben in dieser Lage. Aber da ist ein kleiner Handlungsspielraum. Vielleicht. Man sollte zumindest versuchen, den zu finden – nicht woanders, sondern zwischen den eigenen Handgelenken.
Und dabei vielleicht nicht allen dystopischen Prophezeiungen Glauben schenken?
Auch die Vorhersage ist ja immer kurzlebiger geworden. Die gilt nur noch bis gestern. Alles, was vorhergesagt wurde, ist eh schon vorbei in dem Moment, wo es vorhergesagt wird. Natürlich gibt es grosse Trends, die sehen wir überall, wie etwa den Klimawandel oder die Zunahme von Ungleichheit. Aber ansonsten ändern sich die Dinge extrem schnell. Das ist eine Funktion der allgemeinen Destabilisierung. Aber das ist vielleicht auch eine Möglichkeit für einen Wandel.
Ändern sich die Dinge denn wirklich, oder meinen wir das vielleicht nur?
Doch, ich glaube, die ändern sich schon. In den letzten fünfzehn Jahren, mit dem Abstieg der sogenannten Globalisierung seit 2008, sehen wir schon reale Veränderungen. Ich meine, in Berlin sind die Tafeln, die gratis Essen ausgeben, mittlerweile ziemlich überfordert. Das sind nicht mehr Armutseffekte, die mit ein bisschen Philanthropie kosmetisch beseitigt werden können, sondern reale Verwerfungen.
Hat die Politik Antworten darauf?
Nein. Armut scheint in der Politik kaum ein Thema zu sein.
Warum nicht verzweifeln?
Weil wir keine andere Wahl haben, als nicht zu verzweifeln. Es ist keine Option, einfach wegzulaufen und zu sagen: Tschüss, ich verziehe mich jetzt in meine Depression. Oder in meinen Zynismus. Zynismus ist auch nur eine Art der Weltflucht. Eine sehr privilegierte Art: Zynismus muss man sich auch erst mal leisten können.
Videokunst : Die Unbestechliche
Für einmal keine Floskel: Die 1966 in München geborene Hito Steyerl ist eine der wichtigsten Künstlerinnen der Gegenwart. Ihre frühen dokumentarischen Arbeiten aus den 1990er und 2000er Jahren behandeln virulente deutsche Politikfelder: Neonazigewalt, Antisemitismus und Rassismus in der Kleinstadt. Als einen wichtigen Mentor nennt Steyerl den Rechercheur und Erneuerer des Essayfilms, Harun Farocki. In jüngerer Zeit waren von ihr vor allem mehrteilige Videoinstallationen zu sehen, die sich mit Plattformkapitalismus, Wirtschaftscrashs und Überwachung befassen. So auch das Werk «SocialSim» – als Kommentar zu sozialen Simulationen wie Facebook –, in dem nach Algorithmen tanzende Cops nicht aufhören können, zu zucken und sich zu verrenken. Die Installation handelt aber auch vom Versuch, einem KI-System das neue Wort «SocialSim» beizubringen. Vergeblich: Die künstliche Intelligenz bleibt hartnäckig bei «Socialism».
Steyerl unterrichtet Medienkunst an der Universität der Künste Berlin. Und auch als Theoretikerin zeigt sie ein feines Gespür für Themen. Bereits 2003 hat sie im Sammelband «Spricht die Subalterne Deutsch?» die Debatten um den aufgeladenen Kontext, auf den postkoloniale Kritik im Post-Holocaust-Deutschland trifft, behandelt. Steyerls wohl bekanntester Essay, «In Defense of the Poor Image», analysiert das reiche subversive Potenzial schlecht aufgelöster «armer Bilder».
In den vergangenen Jahren hat sie sich im politisch aufgeladenen Kunstbetrieb als unbestechliche Akteurin gezeigt. 2021 lehnte sie das Bundesverdienstkreuz (und das dazugestellte Allerweltsmotto «Kultur ist Lebenselixier für alle») ab; unter anderem mit den Worten: «Ein Ordensverleihungstermin mit jemandem wie mir wirkt […] leider eher wie das Diversity Washing systemischer Missstände.» Ausserdem zog sie ihre Werke aus der bekannten Kunstsammlung von Julia Stoschek ab, nachdem diese die Herkunft ihres Familienvermögens aus Waffenverkäufen und anderen Geschäften mit den Nazis abgestritten hatte.
Daniela Janser