Abgelehnte Verfassung: Chile ohne Vertrauen
Über 62 Prozent haben den Entwurf für eine neue Verfassung in Chile abgelehnt: Ein Resultat der tiefen Krise, in der sich das Land befindet.
Während des sozialen Aufstands 2019 und 2020 waren sich die Menschen auf Chiles Strassen einig, was die Probleme des Landes sind: die soziale Ungleichheit, die niedrigen Löhne und Renten, das ungerechte Bildungs- und Gesundheitssystem. Die neue Verfassung, die soziale Grundrechte, Umweltschutz und Rechte für Indigene garantieren sollte, lehnte nun jedoch eine überwältigende Mehrheit der Stimmenden ab. Es ist das Resultat einer tiefen Vertrauenskrise, die das Land durchlebt.
Den politischen Parteien vertrauen laut einer Umfrage der Denkfabrik Centro de Estudios Públicos gerade mal vier Prozent der Chilen:innen – dem Kongress neun Prozent. Viele fühlen sich aus der traditionellen Politik ausgeschlossen und sind von den Politiker:innen enttäuscht. Mehr als die Hälfte der Menschen können sich gemäss einer anderen Umfrage keiner politischen Position zuordnen.
Die neue Verfassung, hiess es, würde Abtreibungen bis in den neunten Monat erlauben.
Der Aufstand ab 2019 hatte einen demokratischen Prozess von unten angestossen: Die Menschen beriefen in ihrer Nachbarschaft Versammlungen ein, wo sie über ihre Probleme sprachen und Vorschläge für eine neue Verfassung entwickelten. Die heutige Verfassung stammt noch aus der Diktatur von Augusto Pinochet. In ihr ist ein neoliberales Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell verankert, das das Land bis heute prägt. Der Ruf nach einer verfassunggebenden Versammlung wurde laut.
Um den Protesten ein Ende zu setzen und einen Ausweg aus der Krise zu finden, unterschrieb die damalige rechte Regierung von Präsident Sebastián Piñera mit der Opposition ein Abkommen, das einen verfassunggebenden Prozess einleitete. Der heutige linke Präsident Gabriel Boric nahm damals selber an diesen Verhandlungen teil. Diese fanden jedoch unter Ausschluss der Protestbewegung und der sozialen Organisationen statt. So fühlten sich viele Menschen nicht ernst genommen.
Die Bewegung führte ihren Protest weiter, erst die Pandemie bremste sie im März 2020 aus. Im Oktober darauf stimmten dann knapp achtzig Prozent für die Erarbeitung einer neuen Verfassung unter Ausschluss von Parlamentsabgeordneten. Ein halbes Jahr später wurde der Verfassungskonvent gewählt, wobei Linke, Progressive und Parteiunabhängige eine Mehrheit erhielten. Bis dahin wurde der Prozess noch von einer Mehrheit im Land unterstützt, doch dann begann die Zustimmung langsam zu sinken.
Das mangelnde Vertrauen in die Politik übertrug sich auf den Verfassungskonvent. Für viele war die Debatte über die neue Verfassung zu abstrakt und weit weg. Zur Verunsicherung der Menschen trug auch die rechte Desinformationskampagne bei, die zur Ablehnung der neuen Verfassung aufrief, bevor überhaupt der erste Artikel geschrieben war. Die Menschen wurden auf sozialen Netzwerken mit Falschinformationen zugedeckt.
Die neue Verfassung, so hiess es, würde zur Enteignung von Hausbesitzer:innen führen, den Indigenen Sonderrechte verschaffen und Abtreibungen bis in den neunten Monat erlauben. Die Kampagne der Gegner:innen erhielt zehn Mal mehr Spenden als die der Befürworter:innen – sie glich jenen von Trump, Bolsonaro und jener für den Brexit.
Hinter der Gegenkampagne versammelten sich nicht nur die Rechten, sondern auch das Zentrum. Parteien der ehemaligen Concertación, der Mitte-links-Koalition, die Chile nach dem Ende von Pinochet regierte, kritisierten, dass die Verfassung zu radikal sei, zu links und nicht die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiere. Die Idee der Plurinationalität und die Rechte der Indigenen würden die Gesellschaft spalten. Vielmehr brauche es eine Verfassung, «die Einheit schafft».
Abgesehen von der politischen Vertrauenskrise und der Desinformationskampagne hat es die Linke auch nicht geschafft, die Mehrheit davon zu überzeugen, dass die Verfassung die Lebensbedingungen der Menschen langfristig verbessert hätte. Präsident Boric hat angekündigt, den verfassunggebenden Prozess fortzuführen. Das Referendum ist verloren, doch das politische Projekt geht weiter.