Ergänzungsleistungen: Kein Geld im Ausland

Nr. 37 –

EL-Bezüger:innen dürfen die Schweiz nur noch für maximal drei Monate im Jahr verlassen. Was bedeutet das für Betroffene – und wurde bei der Umsetzung die Aufklärungspflicht verletzt?

Seit Anfang 2021 ist die Reform der Ergänzungsleistungen (EL) zu AHV und IV in Kraft. Während die Reduktion des Mindestbeitrags und des frei verfügbaren Vermögens im Vorfeld für politische Debatten gesorgt hatte, ging ein Punkt völlig unter: EL-Bezüger:innen dürfen neu höchstens drei Monate im Jahr im Ausland verbringen. Zwar hat das Bundesamt für So­zialversicherungen bereits 2001 eine Maximaldauer von drei Monaten bei «nicht zwingenden» Gründen festgelegt; rechtsverbindlich ist die Regel jedoch erst seit Inkrafttreten der Reform.

Davor wurde die Frage der Auslandsaufenthalte von den Sozialversicherungsanstalten (SVA) unterschiedlich strikt gehandhabt. Beispiel dafür ist der Fall des in Graubünden lebenden Autors und Theaterregisseurs Wolfram Frank. Bis vor kurzem verbrachte er bis zu sechs Monate pro Jahr in Kuba. Nun aber ist der EL-Bezug ab einem dreimonatigen Auslandsaufenthalt auch in Graubünden nur noch bei «wichtigen Gründen» erlaubt. Diese sind gemäss der neuen Verordnung bei Ausbildungen, die sonst nicht abgeschlossen werden können, gegeben – oder wenn die Rückkehr wegen Krankheit, eines Unfalls oder durch höhere Gewalt nicht möglich ist. Wer die drei Monate überschreitet, erhält in dieser Zeit keine Ergänzungsleistungen. Weit härter trifft es Personen aus Drittstaaten oder Geflüchtete: Verbringen sie nur einmal mehr als neunzig Tage ohne «wichtigen Grund» im Ausland, haben sie in der Schweiz erst nach fünf Jahren wieder Anspruch auf EL.

Ein «Nebenpunkt»

Nun könnte man denken: Wer fünf Monate pro Jahr in einem Land mit deutlich tieferen Lebenskosten verbringt, könne eine gewisse Zeit auf EL verzichten. Doch muss die betroffene Person auch aus dem Ausland die hiesigen Wohnungsmieten und Krankenkassen­prämien bezahlen. So auch Frank, der von der SVA Graubünden erst diesen Sommer die Nachricht erhielt, dass er im Jahr 2022 nur noch zwei Wochen in Kuba verbringen könne, ohne danach bis auf Weiteres auf EL verzichten zu müssen.

Doch gibt es in der Alltagsrealität nicht auch andere «wichtige Gründe»? Als Frank Kuba im Januar 2013 erstmals besuchte, war er «so fasziniert von Land, Menschen, Geschichte», dass er sogleich mit Notizen für ein Kubabuch begann. Mit dem Teatro Gaio in Havanna und seiner eigenen Gruppe, Acéphale, entwickelte er drei Koproduktionen (deren finanzielle Unterstützung der Kanton Graubünden und in dessen Gefolge die Stadt Chur und die Stiftung Pro Helvetia jedoch ablehnten).

Die hiesigen Mieten und Kassenprämien wollen ja weiter bezahlt sein.

Frank, der seit neun Jahren eine Beziehung zu einer in Havanna lebenden Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern hat und die Familie finanziell unterstützt, war schockiert, als er im Juli von der SVA die Nachricht zur Neuregelung erhielt – zumal er sich an kein Schreiben erinnert, das ihn zuvor darauf hingewiesen hätte. Das Gesetz berücksichtige in keiner Weise, dass es auch andere «wichtige Gründe» geben könne, sagt Frank. Ein solcher aber sei in seinem Fall gegeben: «Aufgrund meiner Lebensgemeinschaft in und meiner literarischen Arbeit über Kuba.»

Auf sein Schreiben an die SVA, in dem er den Status eines Ausnahmefalls beantragte, liess man ihn per Mail wissen, dass dafür die gesetzliche Grundlage fehle. Ausserdem schrieb die SVA: «Dass per 01.01.2021 eine […] EL-Reform in Kraft tritt, war über längere Zeit aus der Presse zu erfahren. Dazu hat die SVA auch auf der Homepage Informationen aufgeschaltet. Ebenso wurden Sie mit der EL-Verfügung vom 18.12.20 rechtzeitig über die Änderungen informiert.»

In jenem nicht eingeschriebenen Brief jedoch stand nichts zu Auslandsaufenthalten. Auch auf den Webseiten der SVA GR sowie von weiteren Kantonen, die die WOZ konsultiert hat, sind zwar Merkblätter zur Reform einsehbar – nirgends aber ist auch nur ein Satz zu Auslandsaufenthalten zu finden. Ganz am Schluss allerdings, sodass man es leicht übersehen könnte, ist in den «Übergangsbestimmungen» vermerkt, «dass für bisherige Bezügerinnen und Bezüger, für welche die EL-Reform eine Verschlechterung zur Folge hat», das alte Recht «bis spätestens 31.12.2023 gilt».

Doch für Willi Lütscher, Teamleiter bei der SVA GR, gelten beim Auslandsaufenthalt die neuen Bestimmungen. Ähnlich sieht das die auf Sozialversicherungsrecht spezialisierte Juristin Sara Brandon-Kaufmann: «Grammatikalisch» könne die EL-Einstellung bei Auslandsaufenthalten zwar eventuell unter «Verlust des Anspruchs» subsumiert werden – tatsächlich aber gehe es dabei «nicht um einen Verlust, sondern eine vorübergehende Einstellung der Auszahlung».

Eine andere Frage, so die Juristin, sei aber berechtigt: ob die EL-Durchführungsstellen diesbezüglich die gesetzliche Aufklärungspflicht erfüllt haben. Darauf angesprochen meint Lütscher: «Beim Auslandsaufenthalt handelt es sich um einen Nebenpunkt. Eine Information über sämtliche Änderungen ­einer derart umfassenden Reform wäre schlicht nicht durchführbar» – zumal dies «nur eine Minderheit von Personen» betreffe.

Willkürliche Vereinfachung?

Alexander Widmer, ­Geschäftsleitungsmitglied der Pro Senectute Schweiz, vermutet den Grund dafür, dass der «Nebenpunkt» nicht explizit kommuniziert wurde, darin, dass er «der jahrelangen Praxis entspricht und somit als deren Weiterführung wahrgenommen wurde». Im Gegensatz zu Brandon-Kaufmann glaubt er aber, dass auch die neuen Bestimmungen zu Auslandsaufenthalten im Sinne des Anspruchsverlusts definiert werden könnten – «insbesondere weil sie nicht speziell ausgeschlossen wurden». Ob die Gerichte einer solchen Argumentation folgen würden, sei schwierig abzuschätzen.

Es gibt weitere Frage­zeichen: Inwieweit generiert die Verordnung eine Ungleich­behandlung zwischen Personen, die sich in EU-Ländern aufhalten und dabei (da keine Visa-Pflicht besteht) gar nicht kontrolliert werden können, gegenüber solchen, die ihre Aufenthalte aus­serhalb der EU verbringen? Mehrere Entscheide von Versicherungsgerichten aus dem Jahr 2020 haben zudem eine alleinige Abstützung auf die Anzahl Tage als ungenügenden Beweis für eine «Verschiebung des Lebensmittel­punkts» eingestuft, deren Verhinderung die Gesetzgebung als Begründung für eine Einstellung der EL genannt hatte. Bei den drei Monaten handle es sich um eine «willkürliche Vereinfachung» für die Verwaltungspraxis.

Frank plant, die nächsten drei Monate in Havanna für die Fertigstellung seines Kubamanuskripts zu nutzen. Wie er diese Zeit finanzieren soll, ist ungewiss: Er wird 1200 Franken AHV-Rente pro Monat erhalten. Alleine Wohnung und Krankenkasse kosten ihn 1400 Franken. «Die Wohnung kündigen würde nichts bringen, die Kündigungsfrist beträgt ja drei Monate.» Frank hat Beschwerde eingelegt und will seinen Fall nötigenfalls bis an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nach Strassburg ziehen: «Ich fordere eine Berücksichtigung meiner ausserordentlichen Beziehung zu Kuba – sowie eine grundsätzliche Aufhebung der EL-Begrenzung in Bezug auf Visa-Auslandsaufenthalte.»