Nagra-Entscheid: Der Widerstand stellt sich neu auf
Der Atommüll soll im Zürcher Unterland in unmittelbarer Nähe zu Deutschland vergraben werden. Das hat die Nagra am Wochenende bekannt gegeben. Wie die Gegner:innen auf den Entscheid reagieren.
Die Standortwahl der Nagra wirft bis nach Deutschland hohe Wellen. Selbst der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz liess sich in der «Tagesschau» der ARD dazu vernehmen. Er wolle den Entscheid mit der Schweizer Regierung «besprechen». Der Standort Nördlich Lägern in der Gemeinde Stadel im Zürcher Unterland liegt gerade einmal etwas mehr als zwei Kilometer von der Grenze entfernt. Entsprechend hoch ist im Nachbarland das Interesse an einer sicheren Lagerung des Schweizer Atommülls. Doch geht es nicht nur um Sicherheitsfragen, sondern auch um Entschädigungszahlungen aufgrund der Belastungen, die in der Bau- und Betriebsphase auch im Nachbarland anfallen werden.
Gesinnungswandel macht skeptisch
Einig sind sich die beiden Länder im Grundsatz, dass sie ihren Atommüll jeweils selber sicher entsorgen müssen. Doch ist die Schweiz dem Nachbarland in der Planung weit voraus: In Deutschland will die Regierung erst 2031 einen Endlagerstandort festlegen.
In einem seltsamen Licht erscheint der aktuelle Entscheid, weil die Nagra selbst Nördlich Lägern 2015 als «eher ungeeignet» aus dem Rennen hatte nehmen wollen, vom Bundesrat aber zurückgepfiffen wurde. Die Opalinustonschicht, in die der Müll eingeschlossen würde, liege zu tief, und das umgebende Gestein sei zu locker, was das geplante Tiefenlager unsicher mache, lautete die Begründung damals. Heute sieht die Nagra dies als «zu pessimistische» Einschätzung. Die Festigkeit des Gesteins sei doppelt so gut wie damals angenommen.
Dieser Gesinnungswandel stimmt den Geologen und Entsorgungsspezialisten Marco Buser skeptisch: Er hat in den Tamedia-Zeitungen den Entscheidfindungsprozess kritisiert und fordert eine unabhängige Untersuchung. Da die wissenschaftlichen Daten der Nagra zum Standort noch nicht publiziert sind, ist eine externe fachliche Einordnung schwierig.
Auch die drei Widerstandsorganisationen in den Kantonen Aargau und Zürich (siehe WOZ Nr. 35/22) reagierten unmittelbar. An den Standorten Bözberg im Kanton Aargau und im Zürcher Weinland, an denen der Kelch vorbeiging, herrscht Erleichterung. Das Weinland galt lange als der von der Nagra favorisierte Standort. Käthi Furrer, Kopräsidentin von «Klar! Schweiz», ging deshalb bis zuletzt davon aus, dass es wohl ihre Region treffen würde. Sie sagt: «Wir sind überrascht und erleichtert. Aber richtig freuen kann ich mich nicht.» Ähnlich tönt es beim Verein Kein Atommüll im Bözberg (Kaib). Der Verein sehe sich in seinem jahrelangen Widerstand gegen ein Atommülllager im Bözberg zwar bestätigt. Kaib-Präsident Max Chopard sagt aber auch: «Fragen, die wir in der Vergangenheit gestellt haben, sind nicht beantwortet worden.» Man müsse nun deshalb gemeinsam kritisch bleiben. Die Gefahren eines solchen Lagers machen ja an Kantons- und Landesgrenzen nicht halt. Daher werde der Widerstand weitergehen. Wobei Widerstand in diesem Fall bedeutet: Lagerung ja, doch müsse sie auf sehr lange Dauer sicher erfolgen, was heute nicht gewährleistet sei.
«Einbahnstrasse von Beginn weg»
Solidarität demonstrierten die drei Vereine bereits am Montag. Delegationen aller drei Organisationen waren mit Plakaten vor dem Medienzentrum in Bern und später bei der Pressekonferenz in der betroffenen Gemeinde Stadel präsent, wo Behörden und Nagra den Entscheid kommunizierten. Doch an der Pressekonferenz waren die Aktivist:innen nicht erwünscht; die Nagra verweigerte ihnen den Zutritt. Nach Verhandlungen durfte immerhin die Kopräsidentin des von der Standortwahl direkt betroffenen Vereins «Nördlich Lägern ohne Tiefenlager» (LoTi) teilnehmen. Allerdings unter Auflagen: Astrid Andermatt waren Fragen untersagt. Diese seien den Medien vorbehalten.
«Das ist mir völlig unverständlich», sagt Andermatt. «Schliesslich haben wir am jahrelangen Entscheidungsprozess mitgewirkt.» Doch seien die Forderungen von LoTi nicht in den Standortprozess eingeflossen. «Wir wurden nicht ernst genommen», sagt Andermatt. Der Verein kritisiert in erster Linie, dass das Sachplanverfahren von Beginn weg eine Einbahnstrasse gewesen sei. «Alternative Ideen für eine sichere Langzeitlagerung wurden nicht entwickelt.» Unabhängige Expert:innen, die der Tiefenlagerlösung kritisch gegenüberstünden, seien nie einbezogen worden. Zudem kritisieren die Aktivist:innen das Zwischenlager in Würenlingen als unzulänglich. Die Vereine verlangen, dass der Atommüll bis zur endgültigen Entsorgung in technisch sichereren Oberflächenlagern aufbewahrt werde. Vor diesem Hintergrund könne man den Standortentscheid nicht akzeptieren, sagt Andermatt.
Immerhin etwas Gutes kann die Aktivistin der aktuellen Lage abgewinnen: Beim Verein hätten sich zahlreiche Leute gemeldet, die sich engagieren wollten. «Wir hoffen natürlich, dass darunter auch jüngere Menschen sind, damit sich der Widerstand erneuern kann.» Bis zur 2031 geplanten nationalen Abstimmung über das Endlager bleibt noch Zeit, auf die langfristige Sicherheit der Atommülllager zu drängen.