Auf allen Kanälen: An die Grenzen

Nr. 38 –

Nach schweren Vorwürfen im «Spiegel» feierte der neue Film von Ulrich Seidl Weltpremiere in San Sebastián – und viele Fragen bleiben offen.

stilisierter Filmstill aus dem Film «Sparta»

«Starker Applaus, zum Teil stehende Ovationen und kein einziges Buh», meldete die «Welt» von der Weltpremiere von Ulrich Seidls neuem Film «Sparta» am Festival in San Sebastián. Georg Friedrich spielt darin einen Österreicher, der in Rumänien eine Judoschule für Knaben aufbaut und zugleich mit seinen pädophilen Neigungen ringt. «Enttäuschte Skandalerwartung» titelte die österreichische Zeitung «Der Standard» am Sonntag: Seidls Film zeige «keinerlei Missbrauchshandlung, eine solche wird auch nicht darin angedeutet». Auch eine Zuschauerin wurde zitiert, die nach der Vorführung den «ganzen Ärger» nicht versteht.

Besagter «Ärger» dreht sich um die Bedingungen bei den Dreharbeiten: Anfang September erhob der «Spiegel» aufgrund einer halbjährigen Recherche schwere Vorwürfe gegen den österreichischen Regisseur. Seidl soll die minderjährigen rumänischen Laiendarsteller und deren Eltern «bewusst im Unklaren darüber gelassen haben, dass es in dem Film auch um Pädophilie geht». Zudem seien die Buben bei den Dreharbeiten «ohne ausreichende Vorbereitung und angemessene Betreuung mit Alkoholismus, Gewalt und Nacktheit konfrontiert» worden, und die geltenden Regeln für einen Dreh mit Kindern seien nicht eingehalten worden.

Seidl dementierte umgehend. In einer Stellungnahme verwahrte er sich gegen «unzutreffende Darstellungen, Gerüchte oder aus dem Kontext gerissene Vorkommnisse». Er habe grössten Respekt vor allen Darsteller:innen, und nie würde er «Entscheidungen treffen, die ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden in irgendeiner Art und Weise gefährden». Die Grenzen des ethisch und moralisch Gebotenen seien beim Dreh nie überschritten worden.

Keine Weltpremiere in Toronto

Das Filmfestival in Toronto, wo «Sparta» hätte uraufgeführt werden sollen, strich den Film daraufhin trotzdem aus dem Programm. San Sebastián hielt daran fest, und auch das Filmfest Hamburg wird «Sparta» zeigen, sieht jedoch kurzfristig davon ab, Seidl wie vorgesehen den Douglas-Sirk-Preis zu übergeben. Letzte Woche legte die österreichische Wochenzeitung «Der Falter» mit eigenen Recherchen nach, die die Berichte des «Spiegel» bekräftigten. Im österreichischen «Profil» wiederum kommen mehrere Crewmitglieder namentlich zu Wort, die die Vorwürfe zum grössten Teil dementieren. Seidl selber ist derweil laut «taz» nach Rumänien gereist, um den Film den Kinderdarstellern und ihren Eltern zu zeigen.

Seidl macht seit Jahrzehnten mit seinen Filmen von sich reden. Diese zeichnen sich durch eine Mischung aus dokumentarischem Zugang und inszenierter Wirklichkeit aus – und durch unangenehme Themen: «Tierische Liebe» (1995) erzählt von sehr innigen Tier-Mensch-Beziehungen, «Paradies: Liebe» (2012) von Sextourismus in Kenia – und nun also Pädophilie in Rumänien. Seidl wurde für seinen schonungslosen Blick in die alltägliche Hölle gefeiert, ihm wurde aber auch immer wieder vorgeworfen, er stelle seine Protagonist:innen aus. Meist arbeitet er mit Profis sowie mit Lai:innen, die eine Version ihrer selbst spielen. Wenn die Profis aus dem reichen Westen und die Lai:innen aus wirtschaftlich schlechter gestellten Ländern kommen, akzentuiert das soziale Gefälle die Gefahr eines Machtmissbrauchs. Umso wichtiger, dass die Verantwortlichen sich dessen bewusst sind.

Kameramann fordert Aufklärung

Was an manchen Berichten aus San Sebastián irritiert: Das begeisterte Medienecho blendet aus, dass die künstlerische Qualität eines Films nichts über die Bedingungen aussagt, unter denen er entstanden ist – die Vorwürfe von «Spiegel» und «Falter» sind damit nicht ausgeräumt. Und nur, weil im Film keine expliziten Missbrauchsszenen zu sehen sind, heisst das nicht, dass bei den Dreharbeiten alles rechtens zu- und herging. Doch das gilt umgekehrt genauso: Nur weil Seidls Filme oft Unbehagen auslösen, bedeutet das nicht, dass es am Set nicht korrekt zu- und hergegangen ist.

Kameramann Serafin Spitzer, der mehrere Wochen auf dem Set von «Sparta» arbeitete, bringt im «Profil» auf den Punkt, was es nun dringend braucht: «Ich hoffe, dass die langwierige und schwierige Aufklärung dieser Vorwürfe in Zukunft nicht ausschliesslich auf medialen Bühnen stattfindet und mit der gleichen Qualität geschieht wie die künstlerische Arbeit.»

Ulrich Seidls Film «Rimini» läuft ab 6. Oktober 2022 in den Schweizer Kinos, «Sparta» ist noch ohne Starttermin.