Solaroffensive: In irrem Tempo an der Verfassung vorbei

Nr. 40 –

Das Parlament hat dringliche Massnahmen beschlossen, damit die Grimselstaumauer erhöht und alpine Solaranlagen schnell gebaut werden können. Das sei nicht verfassungskonform, warnen Staatsrechtler. Das Referendum ergreifen will trotzdem niemand.

Raimund Rodewald findet klare Worte. «Die Legislative benimmt sich, als wäre sie die Exekutive. Es geht um massive Machtfragen. Da schimmert eine politische Haltung durch, die mir Angst macht», sagt der Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz.

Ist der bekannteste Landschaftsschützer der Schweiz einfach ein schlechter Verlierer?

Grosse Solaranlagen in den Bergen können künftig einfacher gebaut werden. Es braucht dafür kein Planungsverfahren mehr. Und der Grimselsee soll 23 Meter höher gestaut werden, damit er mehr Strom hergibt. Beides gilt als nationales Interesse und wird grundsätzlich höher gewichtet als andere nationale Interessen wie der Naturschutz. Das hat das Parlament am letzten Tag der Herbstsession definitiv beschlossen. Die «Solaroffensive», auch «Lex Grengiols» genannt, ist eine Ergänzung des Energiegesetzes. Inspiriert vom Walliser SP-Turbo Peter Bodenmann, ausgeheckt von FDP-Ständerat Ruedi Noser und Mitte-Ständerat Beat Rieder und in beispiellosem Tempo durch die Session gepeitscht.

Die Medienkommentare dazu sind grösstenteils bewundernd: Endlich geht es vorwärts. Endlich macht das träge Parlament Tempo.

Erfolg? Desaster?

Doch mehrere Staatsrechtler, darunter der Zürcher Professor Alain Griffel, kritisieren das Vorgehen heftig (vgl. Interview). Griffel listet eine ganze Reihe von Punkten auf, die er verfassungsrechtlich für hoch problematisch hält: den grundsätzlichen Vorrang der Bauprojekte vor anderen nationalen Interessen ebenso wie die fehlende Planungspflicht, die ausserdem rechtswidrig in die Kompetenzen der Kantone eingreife. Dass das Parlament mit dem Grimselstausee einen Einzelfall auf Gesetzesebene regle, verletze die Gewaltenteilung. Ausserdem sei die Dringlichkeit des Gesetzes nicht gegeben: «Denn eine allfällige Strommangellage diesen Winter kann es nicht abwenden.» Und als dringliches Gesetz, das teilweise gegen die Verfassung verstosse, müsste es dem obligatorischen Referendum unterstellt werden: «Nötig wäre eine Abstimmung von Volk und Ständen, und zwar ohne Unterschriftensammlung.»

 

 

Ist die «Lex Grengiols» ein Fortschritt für den Klimaschutz? Ist das Vorgehen des Parlaments verfassungswidrig? Das sind zwei grundverschiedene Fragen, die man auseinanderhalten sollte. Doch in der Diskussion vermischen sie sich dauernd. Selten war das Fazit von Links-Grün über einen Parlamentsentscheid so unklar: Ist er ein Erfolg? Oder ein Desaster? Viele sehen ihn als Erfolg – auch weil die ursprüngliche Vorlage des Ständerats noch viel heftiger war. «Geradezu kriminell», sagt Griffel. Der Ständerat wollte einen vollständigen Freipass für alpine Solaranlagen, auch in Biotopen von nationaler Bedeutung und ohne Umweltverträglichkeitsprüfung. Das hat der Nationalrat verhindert.

«Aber wie soll man ohne Planungsverfahren eine Umweltverträglichkeitsprüfung machen?», fragt Raimund Rodewald.

«Wir haben die schlimmsten Böcke des Ständerats korrigiert», sagt die Schaffhauser SP-Nationalrätin Martina Munz. Sie habe sich in der Schlussabstimmung enthalten, weil sie die fehlende Planungspflicht und das Grimselprojekt im Gesetzestext für problematisch halte. «Aber das Bundesamt für Justiz sagte klar, die Vorlage sei nach unseren Korrekturen verfassungskonform.» Die Präsidentin der Gewässerschutzorganisation Aqua Viva klingt müde und defensiv: «Ich erwarte vom Bundesamt, dass es das sauber abklärt. Als Laien können wir das nicht in dieser Geschwindigkeit beurteilen.» Der Druck, die Verfahren für den Bau von Energieanlagen zu beschleunigen, sei riesig. «Wir müssen eine verfassungskonforme Beschleunigung hinbekommen, sonst kommen noch mehr solche Gesetze.»

Die «Lex Grengiols» ist bereits am Samstag in Kraft getreten. Die Referendumsfrist läuft seit Montag. Am Erscheinungstag dieser WOZ bleiben noch 97 Tage, um 50 000 Unterschriften zusammenzubringen. Doch es ist absehbar, dass niemand das Referendum ergreifen wird. Die Umweltallianz, zu der der WWF, Greenpeace, Pro Natura und der VCS gehören, will jedenfalls nicht. «Ein Referendum wäre chancenlos», sagt Georg Klingler von Greenpeace. «Und es wäre verheerend, wenn wir Teile von etwas bekämpfen müssten, das wir selber gefordert haben.» Er beurteilt vieles an der Vorlage positiv, etwa die Fördermittel für grosse alpine Solaranlagen: «Damit wird die systemrelevante Rolle der Fotovoltaik endlich anerkannt.» Und die Solarpflicht bei Neubauten sei trotz Einschränkung – sie gilt nur noch für sehr grosse Dächer – erfreulich. Aber eben: Ob das Vorgehen des Parlaments rechtmässig war, ist eine andere Frage.

Es geht wohl so weiter

Die Demokratischen Jurist:innen der Schweiz (DJS) hätten sich mit der «Lex Grengiols» noch nicht beschäftigt, sagt Generalsekretärin Manuela Hugentobler auf Anfrage der WOZ.

«Dieses Vorgehen des Parlaments darf sich nicht wiederholen», sagen beide, Klingler und Munz. Doch das dürfte Wunschdenken sein, denn es geht wohl schon in der Wintersession ähnlich weiter: Die Umweltkommission des Nationalrats möchte auch für Windkraftprojekte ein dringliches Gesetz schaffen. Und der Ständerat will einen dauerhaften Freipass für Energieanlagen auch in Biotopen von nationaler Bedeutung (siehe WOZ Nr. 37/22). «Inakzeptabel», sagt Klingler über das zweite Vorhaben. «Wir setzen alles daran, dass das Parlament hier wieder zur Vernunft findet.»

Die «Lex Grengiols» ist hingegen befristet – bis 31. Dezember 2025. Aber glaubt wirklich jemand, die beschädigte Rechtskultur der Schweiz lasse sich danach einfach so wiederherstellen?