Diesseits von Gut und Böse: Biegsamer Gestaltungswille

Nr. 39 –

Karin Hoffsten liest Gerüchte in der «NZZaS»

Eigentlich wussten wir doch schon auf dem Pausenplatz, wem man ein Gerücht glauben konnte und wem nicht, weil Letztere meistens – bösartigen – Quatsch erzählten. Genauso ist das mit Zeitungen. Wer davon ausgeht, was in der «Weltwoche» stehe, stimme immer, kann ganz blöd danebenlangen; erhöhte Vorsicht ist geboten, wenn Professor Mörgeli verantwortlich zeichnet.

Der verkrallte sich in der aktuellen Nummer in «Weltenbummlerin» Irène Kälin. Die grüne Nationalratspräsidentin fliege gern mit dem Bundesratsjet, wie zum Beispiel kürzlich, als sie «mit Mann und Kind im Bundesratsflugzeug zu Papst Franziskus in den Vatikan» gereist sei.

Die Meldung fand bei der «NZZ am Sonntag» («NZZaS») so grossen Anklang, dass man sie fast wörtlich in die Rubrik «Classe politique» aufnahm, ergänzt um den schulmeisterlichen Hinweis: «Die italienische Hauptstadt ist mit dem Zug ab Bern in 6 Stunden und 36 Minuten zu erreichen. Eigentlich kein Ding der Unmöglichkeit – gerade für eine Grüne, die sich sonst stets den Klimaschutz auf die Fahne schreibt. Aber der Bundesratsjet ist halt bequemer für so ein Familienreisli.» Kälin konterte auf Twitter mit einem Foto ihres SBB-Hinfahrttickets: «Es dauerte genau 7 Stunden und 7 Minuten ab Zürich HB und wir haben die Zugreise nach Rom alle drei sehr genossen!»

Frau Kälins Rückreise fand aber tatsächlich im Bundesratsjet statt: Der flog mit Ignazio Cassis und der Delegation, die der Vereidigung der Schweizergarde beigewohnt hatte, sowieso in die Schweiz. Doch mit der Halbwahrheit streute Christoph Mörgeli genussvoll das Gerücht, Irène Kälin beanspruche jeweils den Jet für sich allein. Die Mitfliegenden interessierten ihn nicht.

Der Zufall wollte, dass sich «NZZaS»-Chefredaktor Jonas Projer unter dem Titel «Wer die Welt verändern will, muss manchmal lügen» in derselben Ausgabe Gedanken machte. Hannah Arendt beiziehend, erläuterte er «die Lüge als Kehrseite jedes Gestaltungswillens»: Wer etwas ändern wolle, müsse sich auch das Gegenteil der Realität vorstellen können.

Nun mag das auf Politiker:innen zutreffen, aber bei Medien, die sich für seriös halten, wird es schwierig. Die «NZZaS» hat sich auf Twitter für die «Ungenauigkeit» entschuldigt.