Eine Wiedererweckung: Das Paradies kann nicht warten

Nr. 24 –

Nach seiner Zeit auf dem katholischen Internat liess WOZ-Redaktor Andreas Fagetti die Kirche hinter sich – bis Papst Franziskus seinen Glauben neu erweckte.

Fromm war ich nie. Kniete ich als Kind abends vor meiner Bettstatt und verrichtete mein Gebet, versuchte ich, mir diesen Gott vorzustellen, von dem ich keine Vorstellung hatte. Also imaginierte ich unbekümmert jenes Bild, das Kinder von diesem allmächtigen Wesen offenbar haben sollten: das des alten weissbärtigen Mannes, der bei aller angeblichen Güte zu Zornesausbrüchen neigte. Es wollte mir nicht recht gelingen. Dieser alte Mann auf dem Wolkenthron langweilte mich. Also richtete ich meine formelhaften Gebete eilig an ein grosses Nichts, damit ich rasch unter die Bettdecke kam. Dort warteten die wirklichen Abenteuer in einem Buch.

Mein Vater war ein lebenszugewandter Katholik. Er engagierte sich in der katholischen Arbeiterbewegung, als Mitglied der CVP in der Lokalpolitik, als Mesmer in der Kirchenarbeit, als Präsident einer Kirchgemeinde. Er war fromm, aber nicht frömmlerisch. Über Leute, die ihren Glauben zur Schau stellten, machte er sich lustig. Im Übrigen erzog er mich zur Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten, die sich selbst für unentbehrlich hielten, sich wichtiger nahmen als ihr Amt. Meine Mutter aus dem tiefkatholischen Österreich hielt mich in Glaubensangelegenheiten ohnehin zu nichts an. Besuchten wir die Messe, hatte sie meist Wichtigeres zu tun.

Noch war die Hölle fern

Als ich älter wurde, diente ich als Ministrant. Wir steckten in bunten Röcken, assistierten dem Priester bei der Eucharistiefeier, reichten ihm liturgische Geräte und halfen ihm bei der Handwaschung. Ich erinnere mich an die Höhepunkte des Kirchenjahres, die prächtigen Prozessionen durch Wiesen und Wälder. Als Sohn des Mesmers durfte ich jeden Tag um elf das Schulzimmer verlassen, runter zur kleinen Kirche rennen, in den Kirchstuhl steigen, am Strick der grossen Glocke ziehen und den Mittag ankündigen. Samstags läuteten Vater, Bruder und ich mit allen vier Glocken den Sonntag ein.

Ich dachte mir bei all dem nicht viel, es war ein entspannter Katholizismus. Frei von Angst, noch war die Hölle fern. Selbst der schmallippige Kaplan, vor dem ich die Beichte ablegte, konnte mir nichts anhaben. Penibel fragte er mich die Gebote ab. Er wollte wissen, wie und warum ich gesündigt hatte. Ich bekannte Sünden, die ich nicht begangen hatte, damit ich rasch dem Beichtstuhl und dem fauligen Atem des Kaplans entkam, der durch das Holzgitterchen strömte, das uns trennte.

Wann mich die Botschaft des Nazareners ereilte und mein Denken und Fühlen zu besetzen begann, weiss ich nicht mehr genau. Jedenfalls hatte ich nichts dagegen, als mein Vater und Pfarrer Wirth fanden, aus mir könnte ein Priester werden, und mir daher den Besuch einer Klosterschule nahelegten. So landete ich bei der Societas Verbi Divini (SVD), besser bekannt als Steyler Missionare. Zunächst war ich ein eifriger Schüler, der unregelmässige lateinische Verben büffelte und bei Pater Ineichen Altgriechischunterricht genoss. Das Internat war eine Art vorgezogene Rekrutenschule, mit einer Hundertschaft pubertierender Buben und junger Männer aus allen sozialen Schichten – aus Handwerker- und Arbeiterfamilien, aus Unternehmer- und Arztfamilien. Es war ein kaum zu zähmender, zu wilden Spässen aufgelegter Haufen. Da musste der eine oder andere mit einer «Verwarnung» zur Räson gerufen werden.

Die Faust des Paters

Die Patres beeindruckten mich weniger. Sie hatten zwar das Armutsgelübde abgelegt, lebten aber ein materiell sorgenfreies Leben. Sie kamen mir vor wie verwöhnte Söhne. Ordensschwestern wuschen ihnen die Wäsche. Und im Gegensatz zu uns Schülern hatten sie in ihrem Speisesaal Zugang zu vorzüglichem Essen, Zigaretten, Bier, Wein. Mit der Figur des Nazareners, deren Nachfolger sie zu sein vorgaben, hatten sie nichts gemein.

Meine Lust am Schabernack wich der Lust an der Provokation: Ich sprach diesen Widerspruch an, beharrte darauf, dass sie ihr Gelübde nicht wirklich ernst nähmen, sprach es im Religionsunterricht an – und landete vor der Tür. Ich hatte als Bub viele Heiligenlegenden gelesen, Franziskus von Assisi war mir der liebste. Er erschien mir als würdiger Wiedergänger des Nazareners, den ich für einen Umstürzler hielt, weil er auf der Seite der Geringsten stand. Mich beschäftigten die Befreiungstheologen. Manche von ihnen hielten es für legitim, auf einem Kontinent, wo die Kluft zwischen Arm und Reich unvorstellbar gross war und bis heute ist, mit der Waffe in der Hand für Gerechtigkeit zu sorgen.

Unflätig war ich nie. Ich argumentierte. Ein Pater wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als mir einen Faustschlag zu verpassen. Na ja, die Geschichte ging für mich nicht gut aus. Der Rektor beschied meinen Eltern, es sei besser, ihren lästigen Sohn aus der Schule zu nehmen, weil er das ganze Internat durcheinanderbringe. So verliess ich kurz vor der Matura das Gymnasium, vergass den katholischen Glauben, den ich nie besessen hatte, und widmete mich dem wilden Leben.

Dann vernahm ich diesen Satz aus dem Mund des neuen Papstes, der den Namen Franziskus gewählt hatte: «Diese Wirtschaft tötet.» Er sass. Das Geheul der Marktreligiösen liess nicht lange auf sich warten. Da verunglimpfte einer ihre Religion. Der Papst solle sich gefälligst um das Seelenheil seiner Schäfchen kümmern. Auf mich wirkte der Satz wie ein Weckruf. Da war er wieder, mein Katholizismus. Wie eine Bestätigung der Botschaft des Zimmermannssohnes, bevor seine «Nachfolger» diese in ihr Gegenteil verkehrten. Erst recht die Kirchenmänner der späteren Jahrhunderte, die meist aus dem Adel stammten. Sie krallten sich, sehr diesseitig, gleich Himmel und Erde. Und vertrösteten die Armen aufs Jenseits. Das Paradies aber kann nicht warten.

Der Papst im Armenviertel

Ich begann, mich mit der Person des Papstes zu beschäftigen. Als Erzbischof von Buenos Aires hielt er seine Priester dazu an, ihre in bürgerlichen Stadtquartieren gelegenen Pfarrhäuser zu verlassen und in die Armenviertel zu gehen. Er selbst machte es ihnen vor. Und er tut es auch als Papst. In Rom besuchte er gegen jedes vatikanische Protokoll einen Slum.

Papst Franziskus ist seit dem Frühmittelalter der erste Nichteuropäer auf dem Stuhl Petri. Anders als der polnische Papst, der die Beziehung zu Gott über alles stellte und wahrscheinlich den Kampf gegen den Kommunismus in seinem Heimatland mit Geldern aus der Vatikanbank unterstützte, anders auch als Papst Benedikt, der sich eine verkleinerte Kirche voller traditionell gestimmter Gläubigen wünschte, die sich brav an die Vorgaben der Kirchenfürsten halten, lebt Franziskus nicht im Papstpalast. Er wohnt im Gästehaus des Vatikans, fährt einen Kleinwagen, kleidet sich wie ein Armenpriester. Er hat die Kurienkardinäle entmachtet. Manche dieser «Fürsten» suhlen sich im Luxus und berauschen sich an ihrer Macht. Franziskus hat die Kirchen der Länder des Südens gestärkt und die Macht der italienischen Kardinäle geschwächt. Er räumt als erster Papst in der Vatikanbank auf, wo italienische und andere europäische Adelsfamilien ihr Geld vor dem Fiskus versteckten und die Mafia Geld wusch. Franziskus hat die Immunität von kriminellen Priestern des Vatikans aufgehoben, die davor wie der inzwischen verstorbene Kardinal Paul Casimir Marcinkus trotz Haftbefehl unbehelligt durch die Welt jetten und Golf spielen konnten.

Dieser Papst hat Mut. Ob es ihm gelingt, die Kirche als Kirche der Armen zu etablieren? Ob er die Gläubigen nicht weiter in einem lebensfeindlichen Regelwerk gefangen hält? Sind die Erwartungen in den Argentinier überzogen? Nachlässig, wie ich bin, zahle ich noch immer Kirchensteuer. Franziskus’ Wirken lässt mir meine Nachlässigkeit weniger absurd erscheinen, er hat meinen Glauben an ein diesseitiges Paradies wieder geweckt. Ich hoffe, er lebt noch lange genug, um die Kirche im Sinne des Nazareners unumkehrbar zu verändern. Aber wahrscheinlich ist das bloss eine kindliche Hoffnung, ein Wunderglaube.