Doppelbiografie: Zwei Leben für die Bewegung

Nr. 39 –

Der Historiker Riccardo Altieri widmet den proletarischen Intellektuellen Rosi Wolfstein und Paul Frölich, engen Vertrauten Rosa Luxemburgs, eine umfangreiche Arbeit.

Rosi Wolfstein und Paul Frölich – hier im Sommer 1952
Geprägt durch die Begegnung mit Rosa Luxemburg: Rosi Wolfstein und Paul Frölich – hier im Sommer 1952. Foto: Friedrich-Ebert-Stiftung, ADSD/FES; Signatur 6/FOTA119549

Solche Menschen sind heute eine Seltenheit: Arbeiterintellektuelle, keine Akademikerinnen, keine Apparatschiks, aber mit Leib und Seele einer grossen Sache verschrieben. Rosi Wolfstein und Paul Frölich, die liiert waren, waren aber auch für ihre Zeit zugleich typisch und aussergewöhnlich. Typisch für die Elite der autodidaktisch gebildeten, vielseitigen und starken Persönlichkeiten, die die alte europäische Arbeiter:innenbewegung prägten. Aussergewöhnlich wegen der Vielzahl ihrer Verbindungen inner- und ausserhalb der sozialistischen Bewegung. Und wegen ihres abenteuerlichen Lebenswegs.

Eine Doppelbiografie der beiden, wie sie nun der Historiker Riccardo Altieri vorgelegt hat, wird unweigerlich zur Schilderung der grossen Ära der sozialistischen Arbeiter:innenbewegung in Europa, die unsere Gesellschaften stärker verändert hat, als uns das heute bewusst ist. Allen Niederlagen zum Trotz. Von Paul Frölich gibt es eine unvollständige Autobiografie («Im radikalen Lager. Politische Autobiographie 1890–1921», Basisdruck, 2013), Rosi Wolfstein hat derlei nicht hinterlassen.

Patriarchalische Zeiten

Beide wurden durch die Begegnung mit Rosa Luxemburg geprägt: Wolfstein lernte bei Luxemburg an der Parteischule der SPD. Ihr verdanken wir eine vollständige Mitschrift der Vorlesungen über politische Ökonomie, die Luxemburg dort hielt. Frölich arbeitete als Journalist und Aktivist in der Sozialdemokratie lange Jahre eng mit Luxemburg zusammen, in Wahlkämpfen, auf Agitationsreisen. Beide gehörten zum Spartakusbund und zu den Gründungsmitgliedern der KPD. Nach Luxemburgs Ermordung im Januar 1919 verwaltete Wolfstein deren Nachlass. Zusammen mit Frölich arbeitete sie an der ersten Ausgabe ihrer gesammelten Schriften, die leider nie vollendet wurde. Von Frölich stammt eine der ersten umfangreichen Biografien über Luxemburg, an der Wolfstein erheblichen Anteil hatte. Allerdings wurde als Urheber nur Frölich genannt. So ungebrochen patriarchalisch waren damals die Sitten.

Altieri folgt in seiner Darstellung chronologisch den wichtigsten Stationen ihres politischen Lebenswegs, strikt an den Quellen orientiert. Beide traten als sehr junge Menschen der Sozialdemokratie bei, wo sie sich dem radikalen Lager der Linken in der SPD anschlossen. Gemeinsam gingen sie zur Linksabspaltung USPD, dann zur KPD, wo sie schon bald wieder zu den oppositionellen, radikalen Kräften gehörten. Die Bolschewisierung der Partei, die mit wütender Polemik gegen den «Luxemburgismus» einherging, konnte ihnen nicht gefallen. Schon vor ihrem Ausschluss aus der KPD Ende der zwanziger Jahre gehörten sie der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) an, in der sich alte und junge Luxemburgianer:innen sammelten. Wie viele oppositionelle und heimatlose Linke gingen sie 1931 zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), dem letzten organisierten Versuch, eine Brücke zwischen den verfeindeten Brüdern und Schwestern der Arbeiterbewegung zu schlagen.

Beide entkamen den Nazis, Frölich erst nach Monaten im KZ. Im Exil flüchteten sie von Land zu Land, von Belgien über die Tschechoslowakei nach Frankreich und in die USA. Zusammen kehrten sie nach Kriegsende nach Europa zurück – in die Bundesrepublik, nicht in die DDR. Dort traten sie wieder in die SPD ein. Eine neue linkssozialistische Partei, auf die beide gehofft hatten, hatte in den Jahren des «Wirtschaftswunders» keine Chance.

Ein wandelndes Lexikon

Frölich war ein ernst zu nehmender Historiker, auch ohne akademische Titel. Sein gross angelegtes Werk über Demokratie und Diktatur in der Französischen Revolution blieb unvollendet, das Fragment wurde erst 1956, drei Jahre nach seinem Tod, vollständig veröffentlicht. Manches davon erschien noch zu seinen Lebzeiten in der Schweizer «Roten Revue».

Wolfstein überlebte ihren Mann um dreissig Jahre. Sie starb 1987 mit 99 Jahren in Frankfurt, wo sie seit der Rückkehr aus dem Exil gelebt hatten. In der vergleichsweise linken hessischen SPD war sie da längst eine Institution: als Zeitzeugin der Novemberrevolution, als Freundin Luxemburgs, als wandelndes Lexikon der Geschichte der deutschen Arbeiter:innenbewegung.

Altieris Arbeit ist eine Dissertation – und eine enorme Fleissarbeit: Der Historiker hat alle einschlägigen Archive durchforstet und vieles gefunden, was bisher nicht oder nur wenigen Spezialist:innen bekannt war. Seine Darstellung hat die Stärken und die Schwächen einer solchen Qualifikationsarbeit: So genau will man es oft gar nicht wissen, und eine Überarbeitung der Dissertation für die Buchpublikation wäre ratsam gewesen.

Dennoch ist diese Doppelbiografie ein Gewinn. Man versteht, warum diese alte Arbeiter:innenbewegung, heute gern als «traditionalistisch» abgetan, so stark und faszinierend war – gerade für Abtrünnige aus dem Bürgertum. Es gab dort nicht nur eine Luxemburg, sondern viele, die ihr ähnelten. Keine Studierten, sondern Leute, die das Selberdenken, Selberlernen und Selbertun kultivierten. Ihr Leben lang.

Buchcover von «‹Antifaschisten, das waren wir›»

Riccardo Altieri: «‹Antifaschisten, das waren wir …›. Rosi Wolfstein und Paul Frölich. Eine Doppelbiografie». Büchner-Verlag. Marburg 2022. 566 Seiten. 55 Franken.