Kommentar: Bildstörung

Nr. 39 –

Die AHV-Abstimmung war ein Medienversagen. Das liegt auch am Zerrbild der Linken, das viele Journalist:innen verbreiten.

SP-Prominenz am Sonntag im Berner «Progr» nach der ersten Hochrechnung
Das sieht nicht gut aus: SP-Prominenz am Sonntag im Berner «Progr» nach der ersten Hochrechnung. Foto: Peter Klaunzer, Keystone

Blättert oder klickt man sich durch die Schweizer Medien, so begegnet man dort regelmässig folgendem Bild der Schweizer Linken: Die SP als grösste Partei entfernt sich immer weiter von den Arbeiter:innen, beschäftigt sich mit Vorliebe mit identitätspolitischen Anliegen und verlässt selten ihre urbane Bubble. Sie wird mit Mattea Meyer und Cédric Wermuth von einem jungen Führungsduo dominiert, das dogmatisch agiert. Der Einfluss der Gewerkschaften auf die Partei ist maximal, der liberale Flügel wird zunehmend marginalisiert. Es ist ein Jammer.

Meist besser weg kommt die Grüne Partei, auch wenn man über sie vor allem erfährt, dass sie bei kantonalen Wahlen erfolgreicher ist als die SP und ihr deshalb einen Sitz bei den Bundesratswahlen wegnehmen könnte. Spannung! Die Gewerkschaften, deren Einfluss, falls wir das noch nicht erwähnt haben, maximal ist, kommen selbst kaum zu Wort. Vermutlich, weil ihre Positionen ewiggestrig und also bekannt sind oder weil sie auch Ausländer:innen vertreten, die sowieso kein Stimmrecht haben. Soziale Bewegungen wie der Frauen- oder der Klimastreik liefern ab und zu einen guten Bildstoff, ausserparlamentarische Gruppen, die sich nicht in den helvetischen Abstimmungskonsens integrieren wollen, kann es nicht geben, es sei denn, es entzündet sich irgendwo Gewalt. Empörung!

Was für ein wunderbares Zerrbild für Journalist:innen, um sich demgegenüber selbst als pragmatisch, kritisch und aufgeschlossen zu präsentieren und bei einem der verbliebenen vier Medienkonzerne einen stellvertretenden Chefposten zu ergattern. Und jetzt also diese AHV-Abstimmung. Mit Verlaub: Sie war ein Medienversagen sondergleichen.

Überhebliche Einigkeit

Praktisch alle Medien in der Deutschschweiz – mit Ausnahme von «K-Tipp», «Republik» und dieser Zeitung – warnten im Vorfeld wieder einmal, wie schon bei allen vorangehenden Reformen, vor einem demografischen Ruin der AHV und empfahlen in ihren Kommentaren ein Ja. Den Vogel schoss die «NZZ am Sonntag» ab, die in einer Titelstory die Umverteilung in der AHV offenbar erstmals bemerkte und skandalisierte. Als ob nicht gerade die Umverteilung von den Reichen zur Allgemeinheit der Schlüssel zur Finanzierung jeder Sozialversicherung wäre.

Dass die AHV-Reform durchkommen muss, daran bestand unter den Chef:innen und ihren Stellvertreter:innen im Kommentariat kein Zweifel: «Starke Frauen sagen Ja»; überheblicher gegen Tieflöhnerinnen als der «Tages-Anzeiger» konnte man es nicht ausdrücken. Bereits freute man sich am Gedanken, dass die Linke ihre Referendumsmacht in der Sozialpolitik verlieren könnte. Wird auch endlich Zeit, dieser Dogmatismus immer.

Die Warnungen der Gewerkschaften vor einem Rentenalter 67 wurden als Lügen abgetan – als ob nicht schon Pascal Couchepin als Innenminister ein solches gefordert und dies im aktuellen Wahlkampf bekräftigt hätte. Couchepin hat aber ohnehin Besseres zu tun: Der plant bekanntlich nächtens mit Peter Bodenmann dieses Solarkraftwerk in den Walliser Alpen. Doch wenn wir schon bei den alten Männern sind: Auch Bodenmann oder wahlweise Rudolf Strahm kann man immer gerne anrufen, wenn man es wieder einmal hören will: Dass die Linke verrostet sei und dogmatisch und der Einfluss der Gewerkschaften maximal.

Dann kamen am Abstimmungssonntag die Resultate, und sie waren eine Bildstörung. Hauchdünn, mit 50,6 Prozent Ja, nahm die Stimmbevölkerung die Reform an. Nachdem im Kanton Solothurn noch einige zusätzliche Nein-Stimmen gefunden worden waren, machten lediglich 31 852 Stimmen den Unterschied.

Bis weit ins SVP-Lager

Die Bildstörung wurde verstärkt durch die Resultate, die das Umfrageinstitut Leewas in einer Nachwahlbefragung auswies: Demnach lehnten 63 Prozent aller Frauen das höhere Rentenalter ab. Erst ab einem monatlichen Einkommen von 9000 Franken nahmen es die Abstimmenden mehrheitlich an. Und erst die Rentner:innen stimmten mehrheitlich zu. Besonders auffällig: Von den SVP-Wähler:innen lehnten fast die Hälfte, also 47 Prozent, die Vorlage ab, gegen die Parteiparole. Die Stadt-Agglo-Land-Unterschiede sind praktisch vernachlässigbar. Umso grösser ist der Graben zwischen West- und Deutschschweiz.

Kurzum: Offenkundig erreichte die Linke die Menschen, die sie angeblich nicht mehr vertritt, nämlich die Beschäftigten mit tiefen und mittleren Einkommen. Und zwar sehr weit ins SVP-Lager hinein. Sie mobilisierte besonders stark bei den Frauen, bei den Jungen und weit über ihre städtischen Hochburgen hinaus. Die Ergebnisse beim Nein-Erfolg gegen die Verrechnungssteuer bestätigen den Eindruck. Von wegen dogmatisch, ewiggestrig, verrostet: Die Linke mit ihrem verjüngten Personal politisiert auf der Höhe der Gegenwart und erreicht bei sozialen Themen einen Grossteil der Bevölkerung, der in den Medien immer seltener vorkommt.

Selbstkritik zum Schluss muss trotzdem sein. Auch wenn das Resultat knapp war, sind die negativen Folgen für die Frauen und Tieflöhner:innen real. Da gibt es nichts schönzureden. Die Kampagne für das Nein nahm über den Sommer erst langsam Fahrt auf. Auch wenn sie die Bürgerlichen mit der Rentenalterfrage provozierte, hätte sie origineller gestaltet sein können. Und das strategische Ärgernis bleibt: Hätten nicht auch Linke mitgeholfen, die AHV 2020 zu versenken, wäre es nie zur jetzigen, viel schlechteren Vorlage gekommen.

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Kommentare

Kommentar von JWest

So., 02.10.2022 - 11:08

Der erste Teil des Artikels ist super, genau so erlebe ich es auch!