Ungarns Opposition: Die liberale Gegenwelt
Trotz Krieg, Krise und Korruption: Wie kann das autokratisch regierte Ungarn wieder progressiver werden? Ein Besuch beim Budapest Forum, dem Kongress der Opposition.
Das Budapest Forum ist in Ungarn so etwas wie ein geschützter Raum. Ein Raum, in dem Gedankenaustausch stattfindet und aktuelle Themen auch kontrovers diskutiert werden. Vergangene Woche traf man hier etwa den US-amerikanischen Osteuropaspezialisten Charles Gati. Der britische Historiker Timothy Garton Ash und der bekannte US-Politologe Francis Fukuyama waren per Video zugeschaltet. Gastgeber des Forums, das am 21. und 22. September bereits zum zweiten Mal stattfand, ist der grün-liberale Bürgermeister von Budapest, Gergely Karácsony. Unter den Sponsor:innen finden sich honorige Institutionen wie die Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD) und die Heinrich-Böll-Stiftung (Grüne) aus Deutschland sowie die Open Society Foundation von George Soros, dem Lieblingsfeind von Premier Viktor Orbán.
Geladen hat Karácsony in die von Soros gestiftete Central European University (CEU). Dort ist viel Platz, seit Orbán den grössten Teil der international ausgerichteten Universität mit einem eigens zugeschnittenen Gesetz aus dem Land vertrieben hat. In seiner Eröffnungsrede, die auf das grosse Thema des Forums – Aufbau nachhaltiger Demokratien – einging, merkte Karácsony an, dass viele Kriege um die Kontrolle fossiler Energiequellen ausgefochten würden, aber noch nie einer um erneuerbare Energien. Der Zusammenhang zwischen demokratischer Widerstandsfähigkeit und nachhaltiger Energie sei offensichtlich.
Zum Alleinherrscher gewählt
Beides ist auch gerade in Ungarn gefragt. Eine Woche nachdem das Europaparlament in einer Resolution Ungarn als «Wahlautokratie» bezeichnet hatte, stellte man nun die Frage, wie das Land wieder zu einer pluralistischen Demokratie werden könne. Die vereinte Opposition ist im vergangenen April krachend gescheitert. Statt des erhofften Wahlsiegs über den autoritär herrschenden Premier setzte es eine Niederlage. Orbán konnte seine knappe Zweidrittelmehrheit im Parlament zu einer bequemen Alleinherrschaft ausbauen.
«Was ist mit der Medienfreiheit, der Freiheit der Bildung, dem unfairen Wahlsystem?»
Benedek Jávor, grüner EU-Politiker
«Ich glaube, dass das Orbán-Regime ziemlich glücklich über den Zeitpunkt dieser Wahlen war», meint Daniel Hegedüs von der US-Denkfabrik German Marshall Fund. Das Ergebnis hätte anders ausgesehen, wären die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen des Kriegs gegen die Ukraine bereits spürbar gewesen. Orbán, so die übereinstimmende Analyse der Opposition, konnte nicht zuletzt Stimmen gewinnen, weil er versprach, das Land aus dem Krieg herauszuhalten.
Ungarn bezieht sein Gas zu 80 Prozent von Russland; 64 Prozent seiner Ölimporte kommen von dort. «Die Regierung hat all ihr Geld vor den Wahlen verpulvert», sagt Zsuzsanna Szélenyi, die an der CEU forscht. «Ungarn ist für einen wirtschaftlichen Schock nicht gerüstet.» Daniel Hegedüs hält einen Staatsbankrott für nicht ausgeschlossen. Bis Jahresende wird eine Inflation von zwanzig Prozent erwartet, eine der höchsten in Europa.
Das ist auch einer der Gründe, warum Orbán sich plötzlich so konziliant gegenüber den Forderungen der EU zeigt. Die Kommission hat effektive Massnahmen gegen die ausufernde Korruption verlangt, damit sie 7,5 Milliarden Euro an Fördergeldern auszahle. Diese Summe entspricht etwa einem Sechstel der Mittel, die Ungarn aus dem EU-Haushalt der Jahre 2021 bis 2028 erwarten kann.
Es geht nicht nur um Korruption
Hegedüs ist skeptisch, dass die angekündigten siebzehn Gesetzesänderungen und die Gründung einer Antikorruptionskommission wirklich etwas ändern: «Wir sprechen über einen Staat, der seit zwölf Jahren tief in strategische Korruption verwickelt ist. Wir können nicht erwarten, dass Vertreter desselben Staates wirklich unabhängige Persönlichkeiten in Entscheidungspositionen bringen.» Bisher hat Orbán alle wichtigen Posten mit getreuen Parteigänger:innen besetzt: von den staatlichen Medien bis zum Obersten Gerichtshof.
Gängige Praxis ist, dass sich auf öffentliche Ausschreibungen nur ein Unternehmen bewirbt, das dann zufälligerweise einem Freund oder Verwandten Orbáns gehört. Orbáns Jugendfreund Lőrinc Mészáros ist so vom bankrotten Gasinstallateur zum Milliardär und reichsten Mann des Landes geworden. Auch Orbáns Vater und sein Schwiegersohn wurden durch dubios vergebene Staatsaufträge reich. Die beste Massnahme wäre für Hegedüs ein Beitritt Ungarns zur Europäischen Staatsanwaltschaft. Den kann die Kommission aber nicht erzwingen.
Benedek Jávor, der für die Grünen im Europaparlament sitzt, bedauert, dass sich der Druck Brüssels auf das Korruptionsproblem beschränkt. «Was ist mit der Medienfreiheit, der wirtschaftlichen Freiheit, der Freiheit der Bildung, dem unfairen Wahlsystem?» Seit seinem Wahlerfolg gebärde sich Orbán wie ein Alleinherrscher.
«Die Räume werden immer enger. Die Regierung macht Liberalen das Leben zur Hölle», klagt Péter Krekó, Leiter des liberalen Thinktanks Political Capital. «So kürzt sie etwa die Subventionen für Theater, die hoch populär sind, aber eine liberale Weltsicht vermitteln.» Mehr als eine halbe Million Menschen hätten Ungarn im letzten Jahrzehnt verlassen. «Die meisten aus wirtschaftlichen Gründen», sagt Krekó. «Aber es sind zunehmend auch politische Motive.» Das ist derzeit die Perspektive für Leute, die mit den Zuständen im Land nicht einverstanden sind. «Die Chance für eine Demokratisierung Ungarns in den nächsten Jahren bleibt sehr gering», folgert Daniel Hegedüs. Und er ist mit seiner Prognose nicht allein.