Asbestfabrik in Rumänien: «Da war Staub, da war Schmutz»

Nr. 40 –

Obwohl Ende der neunziger Jahre längst bekannt war, wie gefährlich Asbest ist, wurde in Rumänien weiterhin damit gearbeitet. Manche Asbestarbeiter:innen des französischen Konzerns Lafarge erhielten später Hilfe, andere nicht.

Zementwerk in Chistag (früher stand daneben die Asbestfabrik)
Chistag: Neben dem Zementwerk stand früher die Asbestfabrik. Foto: Țetcu Mircea Rareș, Wikimedia

Etwa fünf Kilometer vor dem Dörfchen Chistag im Nordwesten Rumäniens taucht plötzlich ein Lastwagen mit Holcim-Logo auf. Auf der ansonsten leeren, von Feldern gesäumten Landstrasse rollt er in Richtung Osten. Seine Destination ist klar: die Zementfabrik, deren Konturen schon bald am Horizont auftauchen.

Das Zementwerk ist der mit Abstand grösste Industriebetrieb und der wichtigste Arbeitgeber in der ländlichen, relativ armen Region. Hier wurden schon Rohstoffe abgebaut und verarbeitet, lange bevor der Betrieb in den Besitz der Schweizer Holcim-Gruppe überging. In der vormals staatlich geführten Fabrik wurden unter anderem Asbestzementprodukte hergestellt.

Asbestfasern wurden während Jahrzehnten aufgrund ihrer Qualitäten wie etwa Hitzeresistenz auf der ganzen Welt für verschiedenste Produkte verwendet. Doch die Fasern sind äusserst gefährlich: Gelangen sie über die Atemwege in die Lunge, können sie dort das Gewebe vernarben und Krebserkrankungen verursachen. Die Gefahr ist besonders gross, wenn bei der Verarbeitung des Materials Staub entsteht und dieser eingeatmet wird.

Masken erst nach der Revolution

«Da war Staub, da war Schmutz», sagt Ilea Dumitru, der früher als Gabelstapelmechaniker in der Asbestzementfabrik gearbeitet hat. Er ist inzwischen pensioniert und wohnt in einem kleinen Haus in Chistag. Das Dörfchen besteht, abgesehen von der Fabrik, aus einer kleinen Ansammlung von einstöckigen, einfachen Häusern, einem verlassenen Bahnhof und einer Kirche, deren Türen an diesem Nachmittag verschlossen sind.

Dumitru sitzt auf dem Bett in seinem Wohn- und Schlafzimmer, neben ihm Banc Petru, ein ehemaliger Vorarbeiter der Fabrik, der ebenfalls pensioniert ist und ein paar Häuser weiter wohnt. «Masken gab es erst nach der Revolution», sagt Petru auf die Frage, ob in der Asbestzementfabrik Schutzmassnahmen galten, und meint damit den Sturz Nicolae Ceaușescus im Jahr 1989.

Über Krebs werde in der Gegend nicht gesprochen, die Krankheit gelte als Schande.

Nach dem Ende des Kommunismus erfolgte in Rumänien eine Privatisierungswelle, im Zuge derer auch die zum staatlichen Unternehmen Romcim gehörende Fabrik in Chistag zum Verkauf stand. 1997, im selben Jahr, in dem in Frankreich ein allgemeines Asbestverbot in Kraft trat, erwarb der französische Konzern Lafarge eine Mehrheit der Anteile am Unternehmen. Es habe sich einiges verändert, als «die Franzosen kamen», erzählen die zwei ehemaligen Asbestarbeiter. Lafarge habe in der Fabrik Luftfilter eingebaut und die Schutzvorschriften verschärft. Einige Arbeiter:innen hätten nun die Masken immerhin dann getragen, «wenn der Chef vorbeikam», sagt Dumitru und lacht. Dass die Masken damit zu tun hatten, dass Asbeststaub höchst gesundheitsschädlich ist, habe man ihnen nach der Revolution schon mal gesagt, meint Petru. Gross erschrocken sei er deswegen nicht.

Obwohl Ende der neunziger Jahre in Europa weitum bekannt war, wie gefährlich Asbest ist, arbeitete man in Chistag unter der Ägide von Lafarge weiter mit dem Material. Allerdings nicht lange: Knapp zwei Jahre nach der Übernahme beschloss die Unternehmensführung, die Asbestverarbeitung zwar nicht zu stoppen, aber an eine neu gegründete Tochtergesellschaft auszulagern. Fibrocim hiess die neue Firma, die im März 1999 gegründet wurde. Wenige Monate später verkaufte Lafarge die Fibrocim-Aktien an die Angestellten, die so zu Besitzer:innen des Unternehmens wurden.

Folgen zeigen sich später

Im Jahr 2000 verkaufte Lafarge auch das Zementwerk, dieses an seinen Konkurrenten, den Holcim-Konzern. Während dieser das Zementgeschäft übernahm, produzierte Fibrocim in unmittelbarer Nähe weiterhin Asbestplatten. Erst 2007, als das EU-weite Asbestverbot auch im neuen Mitgliedstaat Rumänien in Kraft trat, wechselte Fibrocim von der Produktion zur Demontage: Seither ist das Unternehmen nach eigenen Angaben auf Asbestsanierungen spezialisiert und betreibt in unmittelbarer Nähe zur Zementfabrik eine Asbestdeponie.

Typischerweise sind asbestinduzierte Krankheiten in unmittelbarer Nähe zu früheren Produktionsstätten sehr häufig. Neben ehemaligen Arbeiter:innen sind auch Familienangehörige und Anwohner:innen oft betroffen. Im schweizerischen Niederurnen etwa, einem ehemaligen Produktionsort der Eternit AG, starben laut einem Artikel der Unia-Zeitung «Work» von 2017 mindestens 45 Menschen an den Folgen von Asbesterkrankungen. In der Kleinstadt Casale Monferrato, früher der wichtigste Standort der italienischen Eternit AG, waren bis 2017 bereits über 2000 Personen an den Folgen von Asbest verstorben – Tendenz steigend, denn Asbesterkrankungen haben eine Latenzzeit von fünfzehn bis vierzig Jahren.

Zu Chistag hingegen sagt der Lungenarzt Dan Minea, der seit 1987 im nahe gelegenen Spital arbeitet: «Vielleicht gab es Fälle von Asbestose, aber ich wüsste nichts davon.» Ähnlich klingt es beim Departement für öffentliche Gesundheit im Landkreis Bihor, das für Chistag zuständig ist und über eine Abteilung für berufsbedingte Erkrankungen verfügt. Auf eine entsprechende Anfrage heisst es, man habe keine Asbesterkrankungen registriert.

Während in Bihor von 2000 bis 2020 gemäss der Statistik des Instituts für öffentliche Gesundheit (INSP) insgesamt sieben Personen an einem Mesotheliom – einer meist durch Asbest verursachten Krebserkrankung – verstarben, liegt die Anzahl berufsbedingter Asbest­­erkrankungen in der Statistik gar bei null. In anderen Regionen Rumäniens, in denen ebenfalls Asbest verarbeitet wurde, wie etwa im Kreis Gorj, in dem die Stadt Târgu Jiu liegt, sind für denselben Zeitraum 247 Fälle registriert.

Die Unterschiede lassen sich womöglich damit erklären, dass die ehemaligen Asbestarbeiter:innen in Chistag kaum zu regelmässigen Kontrollen gehen. «Vielleicht habe ich schon etwas an der Lunge», meint etwa Banc Petru in der Wohnung seines Kollegen Ilea Dumitru, «aber ich weiss nichts davon.» Beide lachen. Danach befragt, fallen ihnen aber mehrere Personen ein, die Probleme mit der Lunge hatten und kurz nach ihrer Pensionierung starben. Woran genau, wissen sie nicht.

Auch der 63-jährige Biris Viorel lebt in Chistag und hat fast zehn Jahre lang mit Asbest gearbeitet. «Ich kenne kranke Leute», sagt auch er und fügt hinzu: «Aber ich weiss nicht, woran sie erkrankt sind. Wenn Leute krank sind, verstecken sie es.» Insbesondere über Krebs werde in der Gegend nicht gerne gesprochen, die Krankheit gelte als Schande. Die Gefahren und die Auswirkungen einer Asbestexposition waren in der rumänischen Öffentlichkeit bisher kein grosses Thema, im Internet werden asbesthaltige Produkte noch immer aus zweiter Hand weiterverkauft. Als Ionuț Lazăr, der Bürgermeister von Chistag, erfährt, wie viele Menschen an anderen Orten, wo Asbest produziert wurde, erkrankt und verstorben sind, wird er bleich.

Fast die Hälfte bekamen recht

Die Geschichte der Asbestfabrik und ihrer Arbeiter:innen hätte auch anders verlaufen können. Das zeigt sich in der knapp 400 Kilometer entfernten Stadt Târgu Jiu im Südwesten Rumäniens. Auch hier kaufte Lafarge dem staatlichen Unternehmen Romcim die lokale Asbestzementfirma ab, lagerte das Asbestgeschäft an die Tochtergesellschaft Fibrocim aus und verkaufte die Anteile an die Arbeiter:innen. Der Unterschied zu Chistag: Es wurden nicht nur bei zahlreichen ehemaligen Asbestarbeitende asbestinduzierte Krankheiten diagnostiziert, viele von ihnen zogen auch vor Gericht, um die Rentenversicherung auf Schadenersatz zu verklagen.

Nach einem langen juristischen Kampf kam es in fünfzig Fällen zu einem Urteil, wobei die Opfer in knapp der Hälfte der Fälle recht bekamen. Finanziell gelohnt hat sich der Aufwand für die meisten nicht wirklich – die einmalige Entschädigung von zwölf Mindestmonatslöhnen entspricht heute einem Betrag von knapp 6000 Euro. Um zu diesem Geld zu kommen, mussten die Betroffenen nachweisen können, dass dreissig bis fünfzig Prozent ihrer Lunge durch die Exposition mit Asbest geschädigt waren.

Die Presseabteilung der schweizerischen Holcim, wie das Unternehmen seit der Fusion von Holcim und Lafarge heisst, liess auf eine ausführliche Anfrage zu den damaligen Besitzverhältnissen und Verantwortlichkeiten sowie zur heutigen Positionierung des Unternehmens verlauten: «Die Vermögenswerte wurden 1999 von Lafarge veräussert, kurz nachdem sie Romcim übernommen hatten.»

Als Rentner Biris Viorel hört, dass anderswo Leute vor Gericht gezogen sind, zuckt er mit den Schultern. «Bis man erst zu seinem Recht kommt …», sagt er zweifelnd zur üblicherweise langen Prozessdauer. «Wenn ich mit achtzig krank werde, ist es mir auch egal.» Er verabschiedet sich und geht zurück zu seinem Haus, den Kopf gebeugt, die Hände in die Taschen seiner Trainingsjacke gesteckt.

Mitarbeit: Roxana Jipa.

Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit der rumänischen investigativen Journalismusplattform Rise Project. Finanziert wurde die Kooperation durch eine Förderung der NGO Journalismfund.eu.

Internationales Asbestverbot : Noch ein langer Kampf

Dass Asbestfasern Krebs verursachen können, ist seit den sechziger Jahren kein Geheimnis mehr. Ein weltweites Asbestverbot ist trotzdem nicht in Sicht. Doch wer ist verantwortlich, wenn Personen, die bei der Arbeit Asbest ausgesetzt sind, krank werden? Die Unternehmen, die ihre Arbeiter:innen unzureichend geschützt haben? Der Staat, dessen Gesetze und Regulierungen zu lasch waren? Oder beide?

Insbesondere in Europa und den USA finden deshalb immer wieder Prozesse statt – allerdings entscheiden die Gerichte oft nicht im Interesse der Geschädigten. Ein Problem sind vielerorts die Verjährungsfristen: Da manche Asbesterkrankungen erst bis zu vierzig Jahre nach dem letzten Kontakt auftreten, sind mutmassliche Delikte oft bereits verjährt.

Im Fall der Schweiz anerkannte die Suva 1939 zum ersten Mal Asbest als Auslöser einer Berufskrankheit. Das Asbestverbot trat aber erst 1990 in Kraft. Die Suva, die Gewerkschaften, der Asbestmulti Eternit, die Politik: Sie alle standen deswegen in der Kritik – juristisch zur Verantwortung gezogen wurde aber bis heute niemand.

«Die Schweiz trägt als ehemaliger Sitz von Eternit eine besondere Verantwortung», sagt Laurie Kazan-Allen, Koordinatorin des Internationalen Sekretariats für ein Asbestverbot. Die Schweizer Firma dominierte zusammen mit einem belgischen Partner zeitweise die Asbestproduktion in über dreissig Ländern. In Italien, wo bereits mehrere Tausend Personen aufgrund ihrer Arbeit mit Asbest gestorben sind, versuchen Betroffene und deren Angehörige seit Anfang der nuller Jahre, den früheren Eternit-Chef, den Schweizer Stephan Schmidheiny, zu verklagen. Bisher kam es zu keiner letztinstanzlichen Verurteilung. Im Herbst wird nun ein Entscheid des Berufungsgerichts in Turin erwartet, das Schmidheiny wegen fahrlässiger Tötung zu vier Jahren Gefängnis verurteilen könnte.

Während man in Europa damit rechnet, dass die Anzahl der neu festgestellten Asbesterkrankungen zwischen 2020 und 2030 ihren Höhepunkt erreicht, werden weltweit noch immer jedes Jahr Tonnen des krebserregenden Stoffes produziert und verarbeitet – etwa in Kasachstan oder China. In Russland wurde im letzten Jahr mehr als die Hälfte der weltweiten Produktion, insgesamt 700 000 Tonnen Asbest, verarbeitet, wobei das meiste davon für den Export nach Asien bestimmt ist. 

Nachtrag vom 15. Juni 2023 : Neues Urteil gegen Schmidheiny

Zwölf Jahre Haft wegen fahrlässiger Tötung von 147 Menschen, die im piemontesischen Casale Monferrato an den Folgen von Asbest gestorben sind: Das ist das Verdikt, mit dem ein Gericht in Novara vergangene Woche den 75-jährigen Schweizer Stephan Schmidheiny erstinstanzlich verurteilt hat. Als weitere Strafe sieht das Gericht ein fünfjähriges Verbot öffentlicher Ämter und eine vorläufige Schadenersatzsumme von achtzig Millionen Euro vor. Es gilt die Unschuldsvermutung – Schmidheinys Verteidiger:innen haben wieder einmal Berufung angekündigt.

Über zwanzig Jahre schon dauern die Eternit-Prozesse gegen den einstigen CEO der Gruppe Eternit SEG, die von 1973 bis zur Pleite 1986 Grossaktionärin der Eternit Italia S.p.A. war. Erstmals angeklagt wurde Schmidheiny 2009, weil er aufgrund mangelnder Sicherheitsvorkehrungen in mehreren italienischen Eternit-Fabriken den Tod von über 2000 Menschen verursacht haben soll. Zu einem ersten Schuldspruch kam es 2012, als Schmidheiny zu sechzehn Jahren Haft und Schadenersatzzahlungen von achtzig Millionen Euro verurteilt wurde. 2013 erhöhte das Berufungsgericht in Turin das Strafmass gar auf achtzehn Jahre und neunzig Millionen Euro. 2014 allerdings erklärte das Kassationsgericht in Rom die Vorwürfe für verjährt.

Seither wurden mehrere Prozesse auf lokaler Ebene angestrengt: 2019 etwa verurteilte ein Turiner Gericht Schmidheiny wegen zweifacher fahrlässiger Tötung zu vier Jahren Haft. Dagegen ging die Verteidigung unter anderem mit dem Argument in Berufung, dass Schmidheiny Jahre zuvor vom obersten italienischen Gericht wegen Verjährung freigesprochen worden war. Ein erneuter Prozess verletze somit das verfassungsrechtliche Verbot der Mehrfachbestrafung.

2012 aber wurde Schmidheiny wegen «vorsätzlichen Verursachens einer Umweltkatastrophe mit Todesfolgen» verurteilt – die aktuellen Klagen dagegen zielen auf «fahrlässige Tötung». So auch im Fall von Casale Monferrato. Dass der Kontakt mit Asbest zu tödlichen Krankheiten wie Lungenkrebs führen kann, ist bereits seit den dreissiger Jahren bekannt und seit den sechziger Jahren wissenschaftlich bewiesen.