Sicherheitspolitik : Üben mit der Nato

Nr. 40 –

Die Rolle der Schweizer Armee hängt direkt von der Neutralitätsfrage ab. Die Politik geht dieser aus dem Weg, überhäuft die Armee aber gleichzeitig mit Geld – eine strategische Bankrotterklärung.

Besucher:innen im Zelt der Infanterie an der Herbstmesse in Weinfelden
Die Armee bei den Leuten: Im Zelt der Infanterie an der Herbstmesse in Weinfelden.

Gleich hinter dem Eingang zum Gelände schmiedet ein Rekrut Hufeisen, weiter hinten im Zelt stehen zwei Pferde, ein paar Schritte weiter kommandiert eine Soldatin einen Schäferhund durch einen Parcours. Und auf einem Tartanplatz sorgt ein Rekrutenspiel für musikalische Unterhaltung. Dazu Weisswein und Häppchen für die lokale Politprominenz. Es ist Herbstmesse in Weinfelden (Wega), und die Armee ist diesmal mit einer grossen Sonderschau präsent. Zelebriert wird folkloristische Harmlosigkeit – und ein betont weibliches Image. Vom Plakat am Infostand zu militärischen Ausbildungsformaten lächeln zwei lebensgrosse junge Frauen in voller Kampfmontur unter dem Hashtag #chancearmee.

Der Auftritt der Armee an der Wega, die am Montag zu Ende ging, stand im krassen Kontrast zur konflikt- und krisenbeladenen Weltlage. Und er ignorierte, dass die Armee vor grossen Umbrüchen steht.

Keine öffentliche Debatte

Genau einen Monat vor der Weinfelder Sonderschau veröffentlichte das Verteidigungsdepartement (VBS) ein ganzes Bündel an Dokumenten und Informationen unter dem sperrigen Titel «Sicherheitspolitik: Verstärkte internationale Zusammenarbeit unter Einhaltung der Neutralität». Die Meldung ging im Schatten der drohenden Energiekrise sowie der anstehenden nationalen Abstimmungen, etwa zur AHV, völlig unter. Und bis heute hat keine ernst zu nehmende Debatte darüber stattgefunden.

Das wichtigste Anfang September veröffentlichte Dokument ist der «Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine». Dieser kommt zum Schluss, dass die Schweiz ein Interesse daran habe, «ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik konsequenter als bislang auf die internationale Zusammenarbeit auszurichten»; insbesondere auf das transatlantische, US-dominierte Militärbündnis Nato, das demnächst auf 32 Mitgliedstaaten anwachsen wird, sobald die Türkei und Ungarn der Aufnahme von Schweden und Finnland zustimmen.

«Es existiert keine stringente sicherheits­politische Strategie.»
Anja Gada, GSoA

Schon jetzt kooperiert die Schweiz im Rahmen der «Partnerschaft für den Frieden» (PfP) eng mit der Nato, so finden hierzulande immer wieder Gebirgstrainings für Nato-Einheiten statt (siehe WOZ Nr. 49/18). Die Kooperation soll nun ein «erhöhtes Ambitionslevel» erreichen, «indem sich die Schweizer Armee an Übungen der Nato im gesamten Spektrum beteiligen» soll. Das entspricht einer Zäsur: Bisher war immer klar, dass die Schweizer Armee wegen des Neutralitätsgebots nicht an Nato-Übungen, die der gemeinsamen Verteidigung dienen, teilnehmen darf. Denn die Basis solcher Übungen ist der sogenannte Bündnisfall (Artikel 5 des Nato-Vertrags): Ein bewaffneter Angriff gegen mindestens eine Nato-Partei wird als ein Angriff gegen alle Mitgliedstaaten angesehen, sämtliche Nato-Parteien sind sodann zu militärischem Beistand verpflichtet, auch wenn sie nicht selber direkt angegriffen werden. Erstaunlicherweise geht das VBS im Zusatzbericht nun aber davon aus, dass gemeinsame Nato-Verteidigungsübungen auch ohne Mitgliedschaft möglich seien – dies bedürfe aber einer Prüfung. Und falls künftig Nato-Truppen für Übungen in die Schweiz eingeladen würden, «könnten auch Miliztruppen mit ihnen üben», heisst es im Zusatzbericht weiter.

Angst vor «unheiliger Allianz»

Ungeklärt bleibt dabei die Frage, ob die Nato überhaupt ein Interesse daran hat, einem Land das vollständige Mitwirken bei Übungen – und damit auch Zugang zu Infrastruktur und Know-how – zu gewähren, ohne im Ernstfall militärischen Beistand zu erhalten.

«Die Vorstellung des VBS, dass für die Schweiz eine Nato-Kooperation im gesamten Spektrum möglich ist und zugleich das Neutralitätsgebot gewahrt bleibt, entbehrt für mich jeglicher Grundlage», sagt denn auch die grüne Nationalrätin und Friedenspolitikerin Marionna Schlatter. Auch die SP-Sicherheitspolitikerin Priska Seiler-Graf sagt: «Dieser Eiertanz ist absurd. Wollen wir in der Nato dabei sein – und damit die Neutralität aufgeben? Das ist die entscheidende Frage.»

Stellen mag diese Frage zurzeit niemand. Die linken Parteien wollen keine Debatte anstossen, die unter Umständen zu einem Nato-Beitrittsgesuch führen könnte. Die SVP hält trotzig am Irrbild der autonom wehrhaften Reduit-Schweiz fest und lehnt entsprechend eine engere Nato-Kooperation vehement ab. FDP und GLP befürworten eine engere Kooperation mit der Nato klar und halten diese auch für kompatibel mit der Neutralität, während die Mitte zumindest bezüglich gemeinsamer Verteidigungsübungen vorerst zurückhaltend ist. Von einer Nato-Mitgliedschaft will keine der drei bürgerlichen Parteien etwas wissen. Diese sei weder nötig noch erwünscht. Hinter dieser Argumentation steckt auch die Angst vor einer «unheiligen Allianz» aus SP und Grünen sowie SVP, die die Tür zur Nato nachhaltig verschliessen könnte. So halten alle die Füsse still.

Zelte mit Tarnüberwurf auf dem Messegelände in Weinfelden
Zelte mit Tarnüberwurf auf dem Messegelände in Weinfelden.

Immerhin anerkennt FDP-Präsident Thierry Burkart, dass es «rasch eine öffentliche Diskussion über die verteidigungspolitische Strategie braucht». Die Schweiz habe eine lange Tradition, veränderte Bedrohungslagen viel zu spät in Reformen ihres wichtigsten sicherheitspolitischen Instruments, der Armee, umzumünzen. Eine Verteidigungskooperation mit der Nato, die durch eine Vertiefung der Interoperabilität – also der Fähigkeit des Zusammenwirkens der militärischen Infrastrukturen – erreicht werden solle, «muss eine sicherheitspolitische Option sein».

«Wenn Thierry Burkart wirklich etwas an einer öffentlichen sicherheitspolitischen Diskussion liegt, frage ich mich, weshalb er sich nicht dafür eingesetzt hat, dass die eingereichte ‹Stopp F-35›-Initiative auch zur Abstimmung kommt», sagt Anja Gada von der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA). Stattdessen habe das bürgerlich dominierte Parlament in der soeben abgelaufenen Session die Initiative auf Druck von Verteidigungsministerin Viola Amherd hin ignoriert und den sofortigen Kauf von 36 US-Kampfjets des Typs F-35 für über sechs Milliarden Schweizer Franken ermöglicht. «Der F-35 ist spezifisch für Einsätze im militärischen Verbund der Nato konzipiert. Diese Interoperabilität ist ein absolut zentrales Kaufargument», sagt Gada. Eine entsprechende Abstimmung über den F-35-Kauf hätte automatisch zu einer sicherheitspolitischen Grundsatzdebatte geführt – gerade im Hinblick auf das Verhältnis zur Nato.

Tempobolzen ohne Sinn

Die aktuelle Situation sei fatal, sagt Gada: «Es existiert keine stringente sicherheitspolitische Strategie, und trotzdem hat das Parlament das Armeebudget bis 2030 von fünf auf neun Milliarden Franken erhöht.» Sie verweist auf die «Investitionsplanung der Armee 2023 bis 2035», die das VBS zeitgleich mit dem Zusatzbericht zur Sicherheitspolitik publiziert hat. «Diese Shoppingliste zeigt gut, wie planlos die Armee zurzeit geführt wird. Da soll massiv in die Panzerabwehr und die Feuerkraft der eigenen Panzer investiert werden. Dabei sind wir umgeben von Ländern, die in der Nato sind. Die Gefahr eines Panzerangriffs ist praktisch nicht existent», sagt Gada.

zwei F/A-18-Kampfjets der Schweizer Armee über der Kirchturmspitze in Weinfelden
Zwei F/A-18-Kampfjets der Schweizer Armee.

In Weinfelden kommt derweil am Abschlusstag der Herbstmesse doch noch etwas Aufregung auf. Punkt halb zwölf sollen zwei F/A-18-Kampfjets das Messegelände überfliegen. Ein Grollen kündigt sie an, gespannte Erwartung im Publikum. Doch dann ist der Höhepunkt der Armeesonderschau auch schon vorbei: Die Flieger sind nur wenige Sekunden als dunkle Flecken am strahlenden Himmel über der Stadtkirche zu sehen. So kurz, dass sogar der WOZ-Fotograf den richtigen Moment zum Abdrücken fast verpasst. Die Zuschauer:innen sind sichtlich irritiert: War es das etwa? Kommt noch was? Tempobolzen – ohne wirklichen Sinn. Es war die präziseste Darstellung des Zustands der Schweizer Armee während der ganzen Sonderschau.