Flucht in die Schweiz: Zwischen Formularen, Sprachkursen und einer ungewissen Zukunft

Nr. 8 –

Die Vorstellung einer raschen Rückkehr der ukrainischen Geflüchteten erweist sich als politische Illusion – und behindert ihre Integration. Zwei Begegnungen.

Eine in die Jahre gekommene Siedlung am Stadtrand von Zürich. In einem der Reihenhäuser wohnt seit November Svitlana Nachalna, zusammen mit zwei ebenfalls aus der Ukraine geflohenen Frauen und drei Katzen. An einem Freitagmorgen im Februar sitzt sie in ihrem spärlich eingerichteten Zimmer und erzählt vom Verlauf ihres Lebens, seit sie Kyjiw vor bald einem Jahr verlassen musste.

Das Reihenhaus ist für Nachalna bereits die vierte Unterkunft. Erst wohnte sie in einer WG, die sie durch einen Zufall noch von der Ukraine aus gefunden hatte. Nach einer Zwischenstation im Asylzentrum landete sie in einem Zimmer, das als dauerhafte Lösung gedacht war. Eigentlich. «Nach anderthalb Monaten musste ich schon wieder meine Sachen packen. Ein Schock, hatte ich mich doch gerade erst eingerichtet», sagt die 45-Jährige.

Potraitfoto von Svitlana Nachalna
Svitlana Nachalna

Seit Beginn der russischen Invasion hat die Schweiz mit dem Schutzstatus S über 75 000 Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Seither führen sie hier ein Leben im Provisorium: zwischen Sprachkursen und Bewerbungsgesprächen, Formularen und Behördengängen auf der einen, einer ungewissen Zukunft und Angst um die im Kriegsgebiet gebliebenen Verwandten und Freund:innen auf der anderen Seite.

Auch Nachalna checkt auf ihrem Handy jeden Morgen nach dem Aufstehen als Erstes die Nachrichten. Ihr Freund musste als Mann im wehrfähigen Alter in Kyjiw bleiben, immerhin hat er zurzeit einen Job als Möbelbauer. Zwar habe er in der Armee gedient, aber das sei schon ewig her, er sei bloss Übersetzer gewesen, erzählt sie. «Die Vorstellung, dass er jeden Tag einberufen werden könnte, macht mich wahnsinnig nervös.»

Sorgen bereitet ihr aber vor allem die Situation der Eltern. Sie wohnen in der Nähe von Donezk – in einem Ort, der 2014 eine Weile unter russischer Besatzung stand. Seit der Befreiung vor inzwischen bald neun Jahren befindet sich die Stadt unter Beschuss, mal mehr, mal weniger intensiv. Derzeit ist die Region eine der am heftigsten umkämpften. «Meine Eltern leben seit dem Sommer in einem Keller, wo sie nur selten Strom und keine Heizung haben», erzählt Nachalna. «Sobald es etwas ruhiger wird, versucht mein Vater, mich anzurufen. Das letzte Mal habe ich vor zwei Wochen etwas von ihm gehört.» Seit 2014, seit Russland den Krieg in den Donbas brachte, hat sie ihre Eltern nicht mehr gesehen.

98 Bewerbungen, eine Zusage

Ein ähnliches Schicksal teilt Natalija Ostrouchowa. Auch die Familie ihres Partners lebt in der Kampfzone: in Awdijiwka, einst eine blühende Industriestadt, von der praktisch nichts mehr übrig ist. Die 35-Jährige lebt zusammen mit ihm und der kleinen Tochter in Zürich Oerlikon. Wenn sie spricht, schweift ihr Blick in die Ferne, zuweilen wirkt die schmale Frau beinahe apathisch. Die ersten Monate in der Schweiz sei sie bei jeder Kleinigkeit gleich in Tränen ausgebrochen, inzwischen spüre sie praktisch gar keine Emotionen mehr, sagt Ostrouchowa.

Portraitfoto von Natalija Ostrouchowa
Natalija Ostrouchowa

Seit sie in die Schweiz kam, besteht ihr Leben aus diversen Baustellen. Da war zuerst einmal die Wohnungssuche: 98 Bewerbungen hat sie geschrieben, bis es endlich klappte. Schwierig gestaltet sich aber auch die Suche nach einem Job – obwohl ihr Mann und sie so rasch wie möglich arbeiten wollen. «Wir sind es doch von zu Hause gewohnt, von niemandem abhängig zu sein.»

In Kyjiw war Ostrouchowa als leitende Angestellte in einer Bank tätig, ihr Mann arbeitete im IT-Bereich. Um auf dem Schweizer Arbeitsmarkt eine Chance zu haben, besuchen beide täglich einen Sprachkurs, anschliessend durchforstet er Inserate, abends bildet er sich per Fernstudium fort. Für die dreijährige Tochter haben sie einen Kitaplatz gefunden, bald kommt sie in den Kindergarten, Deutsch spricht sie bereits deutlich besser als ihre Eltern. «Sie ist der Grund, warum wir trotz aller Schwierigkeiten nicht aufgeben: Schliesslich hat sie eine ruhige, sichere Kindheit verdient.»

Ostrouchowa glaubt, ihr Mann habe zurzeit bessere Chancen, einen Job zu finden. IT-Spezialist:innen sind gefragt, er wurde auch schon zu Vorstellungsgesprächen eingeladen – bisher ohne Erfolg. Wohl auch, weil die Deutschkenntnisse nicht ausreichten. Die beiden sind bei weitem nicht die Einzigen, denen die Arbeitssuche schwerfällt: Laut einer aktuellen Studie waren Ende Januar knapp fünfzehn Prozent der in die Schweiz geflüchteten Ukrainer:innen erwerbstätig. Verglichen mit anderen Gruppen von Geflüchteten und angesichts der Tatsache, dass die Zahlen nach nicht einmal einem Jahr erhoben wurden, ist das allerdings ein recht hoher Wert. «Wenn Sie schreiben, dass wir eine Arbeit suchen, meldet sich vielleicht jemand», hofft Ostrouchowa.

Der Bundesrat laviert

Svitlana Nachalna möchte erst besser Deutsch lernen, bevor sie sich intensiv auf die Suche nach einer Arbeitsstelle macht: «Ich möchte so gut sprechen können, dass ich beim Vorstellungsgespräch bestehen kann.» Seit einer Woche besucht sie den B1-Kurs für «fortgeschrittene Sprachverwendung». Nachalna hat im Marketing und in der Grafik gearbeitet. Ihr Job in der Schweiz, so hofft sie, sollte zumindest im weitesten Sinn etwas damit zu tun haben.

Einen kleineren Auftrag hat sie bereits ausführen können: Nachalna zeigt einen Flyer, den sie für Good Friends for Ukraine erstellt hat – einen Verein, der Geflüchteten dabei hilft, sich zurechtzufinden. In Kyjiw hat sie Dekorationsmaterial aus Metall hergestellt, ihr Traum wäre es, sich in der Schweiz mit dem Handwerk selbstständig zu machen. Zurzeit versucht sie herauszufinden, welche Bedingungen sie dafür erfüllen muss. «Mein Motto: das Maximum aus der Situation und den Ressourcen herausholen, die man zur Verfügung hat.»

Vor ähnlichen Herausforderungen wie die beiden Frauen in Zürich stehen die meisten ukrainischen Geflüchteten. Wer ausserhalb der grossen Städte wohnt, hat es oft noch einmal schwerer, etwa was die Kinderbetreuung angeht. SP-Nationalrätin Samira Marti ortet nach einem Jahr in erster Linie ein kommunikatives Problem beim Bund: «Karin Keller-Sutter hat bei jeder Gelegenheit betont, dass der Status S rückkehrorientiert ist – und so die Illusion geschaffen, dass die Menschen tatsächlich bald zurückgehen.»

Unterdessen sei längst klar, dass der Krieg noch lange dauern könne. Vonseiten der Politik brauche es deshalb ein klares Signal, sagt Marti: dass man die Menschen in den Arbeitsmarkt integriert, ihnen kulturelle und soziale Teilhabe ermöglicht. «Man kann nicht erwarten, dass sie ihr Leben für unbestimmte Zeit einfach auf Pause stellen.» Entscheidend für die Rückkehr sei ohnehin primär die Situation im Herkunftsland.

Ähnlich äussert sich beim Spaziergang durch Zürich Oerlikon auch Natalija Ostrouchowa: «Mein Mann und ich wollen beide so sehr zurück – doch uns ist klar, dass dies erst nach Kriegsende möglich sein wird. Zudem haben wir in Kyjiw weder eine Wohnung, in die wir zurückkönnen, noch einen Job, um eine Wohnung zu bezahlen.» Bis dahin will sie alles tun, um in der Schweiz zu bestehen. Immer wieder betont sie, wie dankbar sie für die erhaltene Hilfe ist: «Es gibt hier Leute, die so fest an uns glauben, dass ich mich schämen würde, sie zu enttäuschen.»