Literatur: Soundtrack der Kindheit

Nr. 42 –

Fatma Aydemirs Roman «Dschinns» ist ein intensives Familiendrama. Die «taz»-Autorin erzählt vielschichtig und mit Empathie aus diversen Perspektiven.

Fatma Aydemir
Fatma Aydemir verwebt die Geschichten ihrer Figuren stimmig miteinander – und zeichnet dabei auch ein Bild vom Deutschland der neunziger Jahre. Foto: Arne Dedert, Keystone

Das Schweigen – es ist omnipräsent in «Dschinns», dem im Frühling erschienenen Roman von Fatma Aydemir, der zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand. «Schweigen ist die Waffe von Hakans Mutter und war ebenso die Waffe seines Vaters. Schweigen ist der Soundtrack seiner Kindheit, wird Hakan klar.»

Hakan ist eines von sieben Familienmitgliedern, um die sich das Drama dreht, das im Jahr 1999 spielt. Er ist der älteste Sohn von Hüseyin. Mit dessen Tod in Istanbul beginnt das Buch: Hier in einer Eigentumswohnung will der bald Sechzigjährige nach seiner Pensionierung in Deutschland, wo er sich seit Anfang der siebziger Jahre kaputt gearbeitet hat, endlich zur Ruhe kommen. «Deutschland war nicht das, was du dir erhofft hattest, Hüseyin. Du hattest dir ein neues Leben erhofft», spricht eine allwissende Erzählstimme im ersten Kapitel. «Was du bekamst, war Einsamkeit, die nie ein neues Leben sein kann, denn Einsamkeit ist eine Schleife, ist die ständige Wiederholung derselben Erinnerungen im Kopf, ist die Suche nach immer neuen Wunden in längst entschwundenen Ichs, ist die Sehnsucht nach Menschen, die man zurückgelassen hat.»

Ausnahmezustand als Ausgangslage

Kaum in der neuen Wohnung angekommen, erliegt Hüseyin einem Herzinfarkt – und die Wohnung wird nicht wie erhofft ein Ort des Neubeginns, sondern ein verfluchter Ort, der den Tod beherbergt. Innerhalb kürzester Zeit muss sich die Familie nun nach Istanbul begeben, zur Beisetzung des Vaters. Aydemir, die seit Jahren bei der «taz» arbeitet, nimmt diesen Ausnahmezustand als Ausgangspunkt, um Fragen rund um Familie, Herkunft und Identität aufzuwerfen. Wie in ihrem packenden Erstling, «Ellbogen» (2017), handelt «Dschinns» von einer Familie, die die Türkei verlassen hat und in Deutschland nie wirklich angekommen ist – weil sie hier, ausser als schweigende Arbeitskraft, nicht erwünscht ist. Ist «Ellbogen» nur aus der Sicht der achtzehnjährigen Hazal erzählt, so eröffnet sich in «Dschinns» durch die verschiedenen Erzählperspektiven ein vielschichtiges und generationenübergreifendes Bild – nicht nur von dieser Familie, sondern auch vom Deutschland der neunziger Jahre.

Da ist der verträumte Nachzügler Ümit: Der Fünfzehnjährige ist in Deutschland zur Welt gekommen und in seinen Fussballkollegen Jonas verliebt, weshalb ihn sein deutscher, christlicher Trainer zu einem Therapeuten schickt, um ihn zu «heilen». Da ist die wütende Perihan, die es geschafft hat, das Scheisskaff zu verlassen, in dem sie aufgewachsen ist, und die nun an der Uni Frankfurt studiert und in feministischen Zirkeln verkehrt.

Und da ist die Tochter Sevda, die von den Eltern in der Türkei bei den Grosseltern zurückgelassen und als Teenager nachgeholt wurde, die nie eine Schule besuchen durfte und von den Eltern verheiratet wurde. Zu diesen hat sie seit Jahren keinen Kontakt mehr – das Begräbnis zwingt sie zu einem Wiedersehen mit ihrer Mutter Emine. Doch sie verpasst den Flug und kommt zu spät. Genauso wie Hakan: Aus einem Impuls heraus entscheidet er sich, nicht zu fliegen, sondern die Reise mit dem Auto zu unternehmen. Ausgerüstet mit Energydrinks und Musik, rast er durch Osteuropa, im Kopf die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend.

«Ein Wunderwerk an Präzision und Einfühlung» nannte die «Süddeutsche Zeitung» «Dschinns», diese «Mischung aus Kammerspiel und Roadnovel». Und tatsächlich wird man bei diesem «Wunderwerk» mitgerissen von Aydemirs so präziser wie poetischer Sprache, die sie je nach Protagonist:in behutsam variiert. Jede einzelne Figur, die die Autorin vielschichtig und mit Empathie zeichnet, bietet sich zur Identifikation an. Die einzelnen Geschichten sind stimmig miteinander verwoben und verästelt, und wie nebenbei flicht Aydemir politische und gesellschaftliche Ereignisse ein, den Militärputsch 1980 in der Türkei etwa oder die von deutschen Rassist:innen abgefackelten Asylunterkünfte in den neunziger Jahren. Das alles treibt den Roman, dessen Plot sich um ein geheimnisvolles siebtes Familienmitglied dreht, atemlos voran.

Fenster in die Lebensrealität

Die Sprachlosigkeit der Generation der Eltern übernimmt Aydemir auch stilistisch: Sie haben keine eigene Stimme, sondern es ist der «Dschinn», der über sie in der Du-Form spricht. Ein «Dschinn» ist eine Art Geist: «Das Vage, Ungewisse, das Dunkle, das die Menschen verängstigt, weil es nichts Greifbares ist», so erklärt es Perihan ihrem kleinen Bruder Ümit. Redet der «Dschinn» zunächst mit Hüseyin, so ist es am Ende Emine, zu der er spricht – Emine, über die man bis zum Ende des Buchs kaum etwas weiss, denn: «Hüseyin hatte dir erst deine Muttersprache genommen und dich dann in ein Land gebracht, in dem du gar keine Sprache mehr hattest.» Dass die Familie kurdisch ist – auch darüber wird geschwiegen. Ümit hört seine Mutter zum ersten Mal in Istanbul diese Sprache sprechen, die er nicht versteht.

Im Verlagstrailer für das Buch bringt es der Autor Mohamed Amjahid auf den Punkt, wenn er sagt: «Migra-Kinder lesen ‹Dschinns›, um sich selbst zu betrachten, weisse Deutsche lesen ‹Dschinns› als Fenster in die Lebensrealität von Millionen Menschen in diesem Land.»

Buchcover von «Dschinns»

Fatma Aydemir: «Dschinns». Hanser Verlag. München 2022. 368 Seiten. 37 Franken.