Comic: Ein Blechroboter mit Wanze im Kopf

Nr. 43 –

Der ganze Horror des 20. Jahrhunderts kommt hier zusammen: Der französische Zeichner Winshluss lässt in seiner «Pinocchio»-Adaption alle Hoffnung fahren.

Ausschnitt aus der Graphic Novel «Pinocchio» von Winshluss
Als Kampfmaschine erfunden: Bei Winshluss taumelt Pinocchio von einem Verderben ins nächste durch die Horrorwelt des 20. Jahrhunderts. Zeichnung: Winshluss, Avant Verlag

Die Walt Disney Studios haben sich 1940 viel Mühe gegeben, die Geschichte zu verniedlichen: Pinocchio bekam ein herziges Gesicht und ein Outfit wie ein Tiroler Bergbub, die anderen Figuren liess man singen und tanzen, um ihnen ein wenig den Schrecken zu nehmen. Aber wer erinnert sich daran, wie es war, diesen Disney-Film als Kind zu schauen? Immer noch furchtbar unheimlich, nicht?

«Pinocchio» als Erwachsenenbuch zu begreifen, das haben in seiner Rezeptionsgeschichte einige getan (vgl. «Der Holzbengel gibt einfach keine Ruhe»). Der französische Comiczeichner Winshluss hat sich diese Haltung sehr zu Herzen genommen – und schmückt die unwirtliche Welt, die Carlo Collodi in der Vorlage entwirft, mit den grellsten Bildern aus. Kollege Cizo hat den Band sorgfältig – und grossartig – koloriert. Winshluss, mit bürgerlichem Namen Vincent Paronnaud, ist wohl am bekanntesten für seine Arbeit als Koregisseur der Filmfassung von Marjane Satrapis Comic «Persepolis» über die Islamische Revolution im Iran. Für seinen überbordenden «Pinocchio», der fast ohne Dialog auskommt, gewann er am Comicfestival in Angoulême 2009 den Fauve d’or, den Preis für das beste Comicalbum. Der Band war auf Deutsch lange vergriffen, nun wird er nach über zehn Jahren vom Avant-Verlag neu aufgelegt, leider ohne das schmucke Glitzercover des Originals.

Gier, Gewalt und Grauen

Winshluss’ «Pinocchio» ist lose an Collodi angelehnt, schon die Herkunftsgeschichte ist eine andere: Hier ist Geppetto ein geldgieriger Diplomerfinder, der Pinocchio als Arbeitsroboter aus Blech baut und ihn als Kampfmaschine dem Militär verkaufen will – für allerhand einsetzbar, seine Nase kann auch Feuer speien. In Geppettos Abwesenheit wächst bei seiner Frau ein erotisches Interesse an Pinocchio, unter anderem wegen, nun ja, der Nase. Feuer und Explosion: Als Geppetto heimkommt, entdeckt er Fürchterliches. Er zersägt die Leiche seiner Frau und vergräbt sie im Wald. Pinocchio hat derweil schon das Weite gesucht, worauf sich Geppetto auf die Suche nach ihm macht. Der kleine Blechroboter wandert allein durch die Welt und stolpert von einem Verderben ins nächste. Auffallend, wie passiv diese Figur ist: Sie lässt sich verführen, ausbeuten, kaputtmachen, sie erfährt Gier, Gewalt und Grauen. Da bleibt nichts mehr übrig von den Spässen, die sie sich im Original noch erlaubt hatte.

 

 

Der ganze Horror des 20. Jahrhunderts kommt hier zusammen: Kapitalismus, Nazis, Atommüll. Winshluss zeichnet virtuos, beim Stil orientiert er sich an der US-Comictradition der dreissiger bis fünfziger Jahre und an den Underground Comix, die ab den Sechzigern daraus erwuchsen: Winshluss hat «Pinocchio» aus dem 19. ins 20. Jahrhundert übertragen. Passend zum Stil, in dem er zeichnet, reiht er die Schreckensszenarien vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende des Kalten Kriegs aneinander. Auch die Figuren, die diese Welt bevölkern, kommen aus der Popkultur jener Zeit: Da ist etwa Inspektor Bob Javer, einer dieser einsamen, suizidgefährdeten Privatdetektive mit Alkohol- und Misogynieproblem, der zwar gut Fälle lösen kann, aber sonst nichts auf die Reihe kriegt.

Oder Jiminy Wanze, im Original eigentlich eine Grille, die als Gewissen Pinocchios fungiert: Bei Winshluss wohnt Jiminy in Pinocchios Kopf als gescheiterter Schriftsteller, der noch nie irgendetwas zu Blatt gebracht hat, aber von der eigenen Genialität überzeugt ist, wenn er betrunken ist. Diese Horrorwelt, so wird bald klar, ist eine sehr männliche, nostalgisch eingebettet in die Zeit, an der Winshluss sich popkulturell orientiert. Damit ist sie immer auch ein bisschen vorhersehbar: Klar, die Nase als Sextoy für die gelangweilte Hausfrau – und was hat die Sieben Zwerge, die in diesem Wust an Referenzen auf einmal auch noch aufkreuzen, tatsächlich so an Schneewittchen interessiert? Eben.

Kein Ausweg aus dem Elend

Die Sache mit der Moral hat Winshluss einfach gelöst: Es gibt schlicht keine. Nichts auszurichten in dieser desolaten Welt, in der die einen gierig sind und die anderen ausgebeutet werden – nicht wenige auch beides. Hier wartet keine Belohnung für ehrliches Verhalten, am Ende werden alle Auswege aus dem Elend zuverlässig verbaut. So hat Winshluss nicht nur Motive, sondern auch die kulturpessimistische Haltung vieler Underground Comix in seinen «Pinocchio» übertragen. Exemplarisch steht dafür die knapp erzählte Nebengeschichte über eine tüchtige Kleinfamilie irgendwo auf dem Land in den USA, die trotz ihrer Aufrichtigkeit kein Glück findet. Die Panels dieser Episode sind zwar heller gehalten als der Rest des Buches – doch ist dieser Lebensentwurf so eng, dass es einem die Luft abschnürt. Ob man in so einer Welt wirklich ein Junge aus Fleisch und Blut werden will?

Hoffnung bleibt also keine übrig. Kein Platz für Ambivalenzen, weil einfach alles schlecht ist. Winshluss hat diesen düsteren Zugang konsequent und detailverliebt umgesetzt. Und wie unbarmherzig er seine Figuren ins Messer laufen lässt: So unangenehm es ist – es macht auch grossen Spass.

Buchcover der Graphic Novel «Pinocchio»

Winshluss: «Pinocchio». Aus dem Französischen von Kai Wilksen. Avant Verlag. Berlin 2022. 208 Seiten. 45 Franken.