Opposition in Russland: «Das Problem ist die Vereinzelung»

Nr. 44 –

Was es noch braucht, damit in Russland ein revolutionärer Umsturz zustande kommt, weiss der Moskauer Politiker und Aktivist Alexander Samjatin.

WOZ: Herr Samjatin, seit der Mobilmachung haben Hunderttausende Männer Russland verlassen. Verringert die Massenemigration das Potenzial politischer Veränderungen?

Alexander Samjatin: Das sollte nicht überbewertet werden. Vor ihrer Abreise habe ich Bekannte zum Abschied getroffen. Etliche bedauerten, dass nichts mehr so sein wird wie früher. Einige von ihnen arbeiteten für die Moskauer Stadtverwaltung, grosse Firmen und Banken. Sie schwärmten davon, dass in Moskau im Vergleich zu anderen Städten weltweit viel progressivere Entwicklungen stattgefunden hätten. Ich ertappte mich beim Gedanken, dass es sich dabei um einen regelrecht antirevolutionären Blick auf das aktuelle Geschehen handelt: Er ist rückwärtsgewandt und widersprüchlich. Die Vergangenheit in Russland sei demnach gar nicht so übel gewesen. Dabei beschwerten sich dieselben Leute bis vor kurzem noch über die politischen Zustände, über die Repression.

Heisst das, die massenhafte Ausreise wirkt sich gar nicht auf mögliche politische Umbrüche aus?

Einerseits schon, weil manche der Emigrant:innen Geld gespendet und auch oppositionelle Strukturen mitaufgebaut haben. Aber wenn sie nun bloss die Vorkriegsverhältnisse wiederherstellen wollen – wie können sie dann einen Beitrag zu fundamentalen Veränderungen leisten? Ein revolutionäres Projekt erfordert den Bruch mit der Vergangenheit. In Russland stünden diese Leute aber eher auf der Seite der Reaktion.

Alexander Samjatin
Alexander Samjatin

Russische Kommentator:innen verwenden in letzter Zeit immer häufiger das Wort «Revolution», wenn sie über mögliche Zukunftsszenarien sprechen. Doch niemand führt aus, was das genau bedeuten könnte.

Stimmt, der Begriff fand Eingang in den politischen Wortschatz. Bislang bleibt er aber recht schwammig. Von einem theoretisch durchdachten Konzept kann noch keine Rede sein. Die Kriegsfolgen und die damit in Zusammenhang stehenden Verluste fallen aber so sehr ins Gewicht, dass man bereits jetzt vom Übergang in eine neue Phase russischer Politik sprechen kann. Es gibt kein Zurück mehr. Und als Ausweg kommen eigentlich nur zwei Szenarien infrage: die Zuspitzung der Kriegslogik – oder eine Revolution. Aus allzu lang anhaltenden Kriegserfahrungen ergeben sich Revolutionsüberlegungen fast wie von selbst.

Haben denn die in Russland verbliebenen oppositionellen Kräfte konkrete Visionen?

Im Grossen und Ganzen nein. Andeutungen finden sich bei einzelnen Publizistinnen, Aktivisten und Politiker:innen. Allerdings formiert sich langsam auch über diese Kreise hinaus das Bewusstsein, dass reale Veränderung eine konkrete politische Agenda bedingt – das ist schon mal ein Fortschritt. Antikriegsdevisen sind zwar richtig, aber noch kein politisches Programm.

Die Mobilmachung ist eine Zäsur hinsichtlich der bisherigen stillschweigenden Abmachung, wonach sich der Staat aus dem Privatleben der Menschen heraushält. Weil sie alle betrifft, spricht der Soziologe Grigori Judin sogar von einem neuen Gemeinschaftsgefühl.

Ich würde von einer fragilen Situation zwischen zwei Zuständen sprechen. Bislang überwiegt der alte Ansatz, wonach der Umgang mit der Mobilmachung als rein persönliche Angelegenheit gilt. Wenn aber Nachbar:innen sich gegenseitig informieren, an welche Adressen Militärvorladungen zugestellt werden und wer sich besser versteckt, deutet sich an, dass sie beginnen, die Mobilmachung als kollektives Problem wahrzunehmen.

Ausser ein paar Strassenprotesten fällt die Reaktion darauf aber sehr individualistisch aus: Die einen fliehen, andere verstecken sich oder zünden Wehrersatzämter an. Das zeugt eher von der Fortsetzung der allgegenwärtigen totalen Vereinzelung – unter extremen Bedingungen. Als Politiker setzen Sie aber auf kollektive Aktionsformen. Sind diese jetzt noch realistisch?

Es ist eines der grössten Probleme, dass praktisch kein Raum für kollektives politisches Handeln besteht. Die bereits unter Kriegsbedingungen erfolgte Kampagne für die Moskauer Bezirkswahlen war wohl unsere letzte Chance. Im Moment sehe ich keine solche Gelegenheiten mehr. Im Bereich der Emigration gibt es solidarische Hilfsbereitschaft, das ist gut zu sehen. Aber letztlich handelt es sich auch um individuelle Lösungsansätze. Als Oppositionelle ihre Anhänger:innenschaft zur Ausreise aufforderten, stand dahinter keine politische Botschaft, sondern schlicht ein Aufruf zur Flucht. Das ist ein Desaster.

Ich verfolge weiterhin, was in den lokalen Communitys vor sich geht, doch auch dort ist die politische Arbeit fast zum Erliegen gekommen. Das hat aber weniger mit dem Krieg und der Mobilmachung als mit dem Ergebnis der Moskauer Bezirkswahlen im September zu tun. Weil wir seither praktisch keine Vertretung mehr in den Moskauer Bezirken haben, fehlt uns der Zugang zu wichtigen Ressourcen.

Die Bevölkerung ist mit dem Staat immer unzufriedener. Trotzdem findet kein Umdenken statt, politische Verantwortung will immer noch fast niemand übernehmen. Was müsste zur Überwindung dieser Politikabstinenz passieren?

Die häufig zu hörende Annahme, die Mobilmachung zwinge die Bevölkerung endlich dazu, sich zu politisieren, ist zu optimistisch und naiv. Es stimmt, dass sich ein gewisser Prozentsatz der Menschen politisiert hat – aber das ist noch keine kritische Masse. Der Grund ist einfach: Politisierung bedingt die Möglichkeit, kollektiv zu handeln. Das ist kein Prozess, der nur in den einzelnen Köpfen stattfinden kann. Im Moment ist dieses kollektive Handeln aber noch kaum möglich. Die Menschen sind dafür zu vereinzelt. Auf Dauer können sie in dieser Vereinzelung aber nicht ausharren. Die äusseren Umstände werden sie irgendwann dazu zwingen, sich mit anderen zusammenzutun.

Der individuelle Umgang mit Krieg und Mobilmachung führt dazu, dass sich am Ende Menschen mit völlig unterschiedlichen Erfahrungen gegenüberstehen werden, auch wenn sie die Unzufriedenheit über die Zustände eint.

Mir scheint, so werden sich jene sozialökonomischen Widersprüche zuspitzen, die Russland an den Punkt brachten, an dem es sich heute befindet. Die Erfahrungen mit dem Krieg unterscheiden sich fundamental. Damit meine ich nicht nur die Herabstufung der Ärmsten zu Kanonenfutter. Umfragen legen nahe, dass sich unter verwöhnten Städter:innen weit mehr Zuspruch für den Krieg findet als unter sozial Benachteiligten. So werden tendenziell eher jene mobilisiert, die für den Krieg wenig übrighaben, während sich jene Gruppen davor drücken, die ihn eher unterstützen.

Diese Erfahrung wird zu weiteren sozialen Spaltungen innerhalb der Gesellschaft führen, womöglich gar zu bürgerkriegsartigen Konflikten. Da stellt sich dann die Frage nach einer organisierten politischen Kraft. Und danach, ob diese es vermag, die sich aufdrängenden Widersprüche zu erkennen, sie den jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen zu kommunizieren und akzeptable Angebote zu unterbreiten. All das fehlt bislang.

Das hört sich ziemlich ausweglos an.

Alle Seiten finden sich in einer Sackgasse wieder. Je aussichtsloser die Situation ist, desto mehr nähert sie sich einem revolutionären Szenario an. Gleichzeitig entsteht Raum für spontane Aktionen. Sich diese Erkenntnis zunutze zu machen, ist die Aufgabe der Politik in naher Zukunft.

Alexander Samjatin war Bezirksabgeordneter in Moskau, zu den letzten Wahlen durfte er nicht mehr antreten. Er ist Mitbegründer der Plattform «WyDwischenije» für lokale Selbstverwaltung.