Kino: Unendliche Möglichkeiten

Nr. 45 –

Wenn Udo Kier in einem Film nicht eingesetzt wird, um diesem etwas verrückten Glanz zu verleihen, sondern stattdessen dafür, diesen zu erden, oder anders gesagt: Wenn Udo Kier das Normalste in einem Film ist, dann sollte man auf der Hut sein, dass einem, je nach Temperament, nicht das Herz oder der letzte Nerv geraubt wird.

Geklaut wird in «A E I O U» zunächst bloss die Handtasche der Schauspielerin Anna (Sophie Rois), auf der Strasse entrissen von Adrian (Milan Herms). Ein normaler, oder passender: ein neurotypischer Film würde diese Ausgangslage zum Anlass für eine komödiantische Auseinandersetzung mit der zynischen Art und Weise machen, wie die Film- und Theaterwelt mit Schauspielerinnen über vierzig umgeht (was hier in mehreren bös-präzisen Szenen auch getan wird); er könnte sich in Annas kaum selbstverschuldete Neurosen vertiefen (wird schnell langweilig), oder es läge, wenn es dann zufällig genau derselbe Adrian ist, der zu ihr ins Sprechtraining kommt, wenigstens eine jener symbolischen Ersatzmutter-Sohn-Geschichten drin, in der zwei von der Gesellschaft Unerwünschte über die gemeinsame Liebe zum Theater oder zur Sprache oder so was Halt und Trost finden.

Hätte, hätte und so weiter, aber Adrian kommt, wie es heisst, «nicht an im Leben und sorgt ständig für Scherereien», zudem hat er ADHS, und wenn ein Film sich jemals die psychologische «Störung» einer seiner Figuren zu eigen gemacht hat, dann dieser. Statt der Mutter-Sohn-Geschichte entwickelt sich eine intensive (und glaubwürdige!) Amour fou zwischen der Sechzig- und dem Siebzehnjährigen, und niemals käme es dem Film in den Sinn, da etwas verurteilen zu wollen, und selbst Udo Kier als bester Freund, Nachbar und Vermieter Annas kann, wenn Anna ihn schliesslich aus der Untersuchungszelle in Nizza anruft, nur noch lachen.

«A E I O U» von Nicolette Krebitz ist eine romantische Komödie im wahrsten, das heisst kulturhistorischen Sinn, was in diesen Zeiten nicht den besten Ruf hat. Doch, wie Anna schon zu Beginn im Voiceover sagt: «A ist der Klang, den man nicht aufhalten kann. Das A ist immer schon da.» Der Rest ist reine Möglichkeit.

Filmstill aus dem Film «A E I O U. Das schnelle Alphabet der Liebe»

«A E I O U. Das schnelle Alphabet der Liebe». Regie: Nicolette Krebitz. Deutschland 2022. Jetzt im Kino.