Sandra Hüller: «Ich merkte, wie ich in mir die exakte Kopie eines Gefühls erzeugen kann»
Hat sie oder hat sie nicht? Im Film «Anatomie d’une chute» spielt Sandra Hüller vielleicht eine Mörderin. Im Interview erzählt sie über eine Entdeckung, die sie in jeder Rolle begleitet.
WOZ: Sandra Hüller, der Film «Anatomie d’une chute» beginnt mit einem Interview, das scheitert. Was ist für Sie ein gelungenes Interview? Lässt sich so überhaupt etwas über die befragte Person herausfinden?
Sandra Hüller: Wenn ein Interview für alle gut funktioniert, ist es ein Gespräch. Dafür gibt es aber nicht immer Raum. Oft würde ich zum Beispiel gerne wissen, woher eine bestimmte Frage kommt und warum sie immer wieder auftaucht. Wir hantieren ja permanent mit Projektionen – nicht nur in Ihrem Beruf, sondern auch in meinem. Und jeder interviewte Mensch achtet darauf, welches Bild er von sich abgibt. Deswegen weiss ich nicht, ob man da viel rausfinden kann. Bestimmte Fakten über die Arbeit bestimmt – aber die Person kennenlernen? Da bin ich mir nicht sicher.
Eine Gerichtsverhandlung wie im Film ist ja auch eine Art Interviewsituation. Ihre Filmfigur Sandra, die des Mordes an ihrem Ehemann angeklagt ist, ist dabei teilweise so ehrlich, dass ihr Anwalt sie zurückhalten muss. Ist das Sandras Strategie: das Gegenüber zu überfordern?
Da es ihr erstes Mal vor Gericht ist, glaube ich nicht, dass sie eine Strategie hat. Als Schriftstellerin weiss sie natürlich etwas über Fiktion und über Figuren. Mir war aber wichtig, dass sie nie manipulativ agiert.
Welche Rolle spielt die Frage nach ihrer Schuld?
Der Kriminalfilm oder der Gerichtsfilm ist wie ein Trojanisches Pferd, mit dem alle anderen Themen, die er behandelt, in den Zuschauerraum hineinkommen. Das Genre ist nur eine Form, die gewählt wurde, um etwas über die Gesellschaft zu erzählen.
Die Unvergleichliche
Die beiden wichtigsten Preise von Cannes gingen dieses Jahr an Filme mit Sandra Hüller in der Hauptrolle: die Goldene Palme an «Anatomie d’une chute», der Grosse Preis der Jury an «The Zone of Interest».
Ihren Durchbruch feierte Hüller einst am Theater Basel in der Uraufführung von Lukas Bärfuss’ «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» (2003). In der Schweiz sorgte sie zuletzt am Theater Neumarkt in Zürich für Furore im Solostück «Bilder deiner grossen Liebe» (2016). Seit 2018 gehört die 45-Jährige zum Ensemble des Schauspielhauses Bochum.
Aber im Gegensatz zum Publikum weiss Sandra, ob sie ihren Mann vom Balkon gestossen hat oder nicht. Kann man diese Figur überhaupt spielen, ohne das für sich entschieden zu haben?
Ich bin überzeugt, dass auch viele Mörder:innen vor Gericht von ihrer eigenen Unschuld überzeugt sind. Insofern war es für mich nur wichtig, dass es Sandra selbst glaubt. Und dass ich so spiele, dass alles, was ich sage, ehrlich ist.
Das heisst, Sie glauben ihr?
Ich glaube ihr, was sie sagt.
Und doch kann man sich nie ganz sicher sein, ob man nicht einer begabten Manipulatorin gegenübersitzt. Sandra muss immer die Kontrolle behalten, schon beim Interview am Anfang des Films – also in einer Situation, bei der man die Kontrolle normalerweise für einen Moment abgibt …
Finden Sie? Das Erste, was ich bezüglich Interviews gelernt habe, ist, dass man für den Gesprächsverlauf selbst verantwortlich ist. Im Gerichtssaal ist es für Sandra essenziell, dass sie die Kontrolle darüber behält, was sie sagt und wie sie es sagt – weil so viel auf dem Spiel steht. Da wird darüber verhandelt, ob ihr Sohn alleine aufwachsen wird. Und sie merkt schnell, dass das durchaus passieren kann, selbst wenn sie unschuldig ist. Diese Art von Konzentration die ganze Zeit beizubehalten und jeden Angriff adäquat zu beantworten, ist sehr anstrengend. Nicht die Fassung zu verlieren, sondern bei sich zu bleiben.
Für Sie steht Sandra immer kurz davor, die Fassung zu verlieren?
Beim Spielen hat es sich so angefühlt. Also dass es sehr aufwendig ist, diese Ruhe zu bewahren. Natürlich hat es mich persönlich auch aufgeregt, wie sie behandelt wird. Im Gerichtssaal ist dann aber kein Platz dafür, das zu zeigen.
Und doch muss man es als Schauspielerin irgendwie vermitteln. Wie sind Sie das technisch angegangen?
Spielen Sie auch selber?
Nicht im Sinne von Schauspiel.
Das ist so eine richtige Schauspielerfrage. Wie wenn man zum Beispiel – das ist jetzt wirklich ein sehr, sehr hohes Regal – ein Bild von Gerhard Richter nimmt. Das sieht erst mal weiss aus, aber wenn ich weiss, dass da noch fünfzehn andere Farben darunter sind, dann sehe ich die trotzdem. Oder ich spüre sie. Beim Spielen ist es auch so. Als Person kann ich das Gefühl haben, dass die Art und Weise, wie der Staatsanwalt Sandra behandelt, überhaupt nicht geht. In meiner Reaktion wird das dann mittransportiert – also dieser Kraftaufwand, das zu unterdrücken und stattdessen fair, ruhig und sanft zu bleiben, auch in Trauer zu bleiben und letztlich auch dem Gericht gegenüber respektvoll zu bleiben. Das wird dann sichtbar und dadurch auch – glaube ich zumindest – reicher. All diese Gefühle sind anwesend. Solche Mikroentscheidungen treffen wir auch im Leben ständig: worauf wir ansprechen und worauf nicht und was wir uns davon anmerken lassen.
Und diese Gefühle sind dann echt?
Für mich, ja.
Ist das eine Form von Method-Acting?
Wenn ich mir vorstelle, dass ich wirklich in dieser Situation bin und dann wahrnehme, wie mein Gegenüber mich behandelt, löst das in mir etwas Bestimmtes aus. Dann entscheide ich, welchen Weg ich nehme, damit umzugehen; ob ich das zeige oder nicht. Ich musste mal hochschwanger in einem Film eine sehr heftige Szene spielen. Weil ich natürlich nicht wollte, dass in meinem Körper diese ganzen chemischen Reaktionen ablaufen, die eben ablaufen, wenn Hormone ausgeschüttet werden – wenn man sich ärgert, wenn man Angst hat, wenn man weint und so weiter –, habe ich gemerkt, dass es so etwas wie eine exakte Kopie des Gefühls gibt.
Können Sie das erläutern?
Es war eine Entdeckung. Ich dachte immer, dass die Gefühle, die beim Spielen passieren, echt sind. Aber durch die Erfahrung mit dem Kind im Bauch merkte ich, dass sie das nicht sind. Dass der Stress nicht chemisch in meinem Körper ankommt, sondern dass ich irgendwie eine exakte Kopie davon herstellen kann.
Das funktioniert immer?
Ich verlasse mich darauf, dass es so ist. Dass es mich persönlich eben nicht betrifft. Diese Erkenntnis war erleichternd, weil ich mich dadurch nicht emotional vorzubereiten brauche, sondern im Moment etwas abrufen kann, woran es mich erinnert. Vielleicht ist das «Method», aber gelernt habe ich es nicht.
Ihre Figur in «Anatomie d’une chute» schreibt autofiktionale Bücher, und im Film geht es dann auch um die Frage, was man von der Realität übernehmen und zu Kunst umformen darf. Auch mittels Schauspiel kann man mit Realitäten spielen. Inwiefern spielen diese Dinge zusammen?
Als Schauspielerin kann ich in einem geschützten Raum bestimmte Sachen ausprobieren, die ich im Leben wahrscheinlich nie machen würde – weil die Konsequenzen einfach zu gross wären. In einem Beruf mit vielen schönen Teilen ist dieser besonders schön. Was würde denn passieren, wenn ich jetzt so handeln, so antworten würde? Wie wäre es, so eine Beziehung zu leben?
Ausserdem lerne ich natürlich viel über Menschen, und meine Ambiguitätstoleranz vergrössert sich mit jeder Rolle. Je mehr Zusammenhänge, in denen meine Figuren stecken, desto offener kann ich im eigenen Leben sein, desto wertfreier kann ich kommunizieren.
Spielt es für den Film eine Rolle, ob Sandra schuldig ist oder nicht?
Ich finde nicht.
Könnte die Wahrheit auch irgendwo in der Mitte liegen?
Kann man jemanden so halb umgebracht haben? Oder schuld an seinem Tod sein, ohne ihn umgebracht zu haben?
Etwas in der Art vielleicht. Ich denke vor allem an die Streitszene …
Ja, aber das liegt im Auge des Betrachters. Das Tolle an dem Film ist, dass das Publikum mitspielt. Die Fantasien, die ich als Zuschauerin über eine Figur habe, haben ganz viel damit zu tun, ob ich glaube, dass sie schuldig ist oder nicht. Was ich für ein Männerbild oder Frauenbild habe, wie ich meine eigene Beziehung führe, wie ehrlich ich zu mir selber sein kann, wie ehrlich mein:e Partner:in zu mir ist, als wie frei ich mich selbst empfinde. Mir war es wichtig, dass meine Figur eine Frau ist, der man das durchaus zutrauen könnte. Vor der man … «Respekt» wäre das falsche Wort – aber die durchaus gefährlich sein kann. Und die es den Leuten nicht leicht macht, sie zu mögen.
Der Film arbeitet stark mit dokumentarischen Techniken. Teilweise wirkt das fast realistischer – und definitiv intensiver – als eine True-Crime-Doku.
Justine Triet, die Regisseurin, kommt vom Dokumentarfilm. Mit «Victoria» und «Sibyl» hatten ihre Filme ein bisschen mehr Hochglanz bekommen, aber für «Anatomie d’une chute» hat sie das Dokumentarische wiedergefunden. Ihr war wichtig, dass wir in diesen Situationen wirklich miteinander umgingen, ohne darauf zu achten, wie gut es aussieht. Die Kamera hat Imperfektionen, bewegt sich manchmal wie zufällig mit. Ich finde toll, wie sich so die Irritation im Gerichtssaal auf das Gerät überträgt.
Es war Ihre erste Erfahrung mit Gerichtsszenen. Wie war das für Sie?
In gewisser Weise wie im Theater, weil da auch permanent Publikum ist, das man quasi mit überzeugen muss. Ich fand auch interessant, wie mit dem Körper nicht viel möglich ist. Da sind dann viele Entscheidungen zu treffen: Wie sitzt man da? Ist das bequem oder nicht? Sitzt die Figur aufrecht? Hat sie die Beine überkreuzt oder offen? Liegen die Hände im Schoss oder sind sie verschränkt? Das muss dann über viele Stunden durchgehalten werden. Da entsteht eine besondere Konzentration, auch, weil ich ja nicht viel machen kann, etwa mit Gesten. Ausser sehr laut denken. Das war eine tolle Herausforderung, ich mochte das.
Einschränkungen sind eigentlich Befreiungen?
Im Spiel finde ich tatsächlich Grenzen sehr interessant. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn jemand sagt: «Mach, wie du willst.» Es sind nicht die Möglichkeiten einer Figur, die ausschlaggebend sind, sondern das, was sie nicht kann. Bei Sandra wäre das so was wie sich unterordnen. Das kann sie einfach nicht.
Und das andere Extrem? Wenn die Regie alles kontrolliert?
Das wird dann halt was ganz anderes. Es ist dann einfach nicht lebendig, sondern sehr formal, geformt, und hat auch nichts mehr mit den eigenen Impulsen zu tun, sondern nur mit jenen von aussen. Darauf kann man sich auch einigen.
Wie war es mit Jonathan Glazer bei seinem Film «The Zone of Interest»? Dort verkörpern Sie Hedwig Höss, die Frau des Auschwitz-Lagerkommandanten Rudolf Höss.
Justine Triet und Jonathan Glazer achten beide sehr darauf, dass die Schauspieler:innen frei sind. Damit meine ich nicht die Grenzen der Figur, sondern dass die Spielenden eigene Entscheidungen treffen können. Bei «Anatomie d’une chute» mussten wir uns beispielsweise nicht nach dem Licht richten, sondern es wurde da hingebaut, wo wir es brauchten. Das meine ich mit Freiheit.
Bei «The Zone of Interest» war es ähnlich, wobei es da gar kein künstliches Licht gibt. Das Haus war vollständig mit Kameras ausgestattet, und wir wussten nie, aus welcher Richtung gefilmt wird. Das schafft eine hohe Konzentration und die Anwesenheit von irgendwas Drittem. Natürlich weiss ich, dass das Team im Haus daneben sitzt – aber wir Spielenden sind im Haus alleine mit irgendetwas, das uns beobachtet und alles sieht. Das erzeugt eine ganz komische Verantwortlichkeit. Wie unter der Lupe; und alles, was man tut, hat Bedeutung.
Aber anders als im Theater?
Ja, weil das Theater immer eine Richtung hat – man versucht, nach vorne zu spielen. Bei «The Zone of Interest» gab es das nicht. Der Herd ist der Herd, der Wasserhahn ist der Wasserhahn, und die gestohlenen Sachen von den Toten aus Auschwitz liegen dann eben da beim Geschenkpapier. Und es kann nichts gezeigt werden, weil das sofort auffallen würde.
Wie meinen Sie das?
Es gibt Spielarten, wo ich zeige, was ich empfinde, und es gibt welche, wo ich das nicht mache. Wo das, wie vorhin beschrieben, im Untergrund stattfindet und man nur die oberste Schicht sieht. Das war auch hier so. Auf der einen Seite eine grosse Freiheit im Spiel und im Umgang mit allem, was da ist. Gleichzeitig ein grosses Verantwortungsgefühl, eine grosse Einsamkeit.
Einsamkeit?
Das Gewicht der Schuld, die auf den Figuren liegt, war immer spürbar, durch das permanente Gesehenwerden … (Zögert.) Ich würde es beschreiben, wenn ich es könnte, aber ich kann es nicht. Es war wirklich aussergewöhnlich … intensiv.
Bei einer Rolle wie Hedwig Höss wird jede Entscheidung, wie man diese spielt, wie man mit ihren Ambivalenzen umgeht, sofort politisch. Kann das auch einschränkend wirken?
Das Gewicht der Realität?
Oder das politische Verantwortungsbewusstsein. Es wird doch immer noch darüber debattiert, was Hedwig Höss wusste und was nicht …
Sie wusste alles. Sie hat es immer dementiert, aber es gibt Berichte darüber, dass sie im Lager war. Sie hat alles gesehen. Das war die wichtigste Information, die ich brauchte. Sie wusste es, und es war ihr einfach egal. Da sind wir wieder bei den Grenzen: Für mich ist das jemand, der einfach nicht empfinden kann – ein vollkommen empathiefreies Wesen. In Interviews sind mir Fragen in der Art begegnet, wie denn die beiden Mütter, die ich da spiele, miteinander verwandt seien. Aber damit hat das nichts zu tun. Selbst für ihre Kinder empfindet Hedwig Höss nicht so viel wie für ihren Wohlstand und ihren Pelz – für alles, was ihr das Gefühl gibt, besser zu sein als andere. Im Grunde ist das doch der Kern des Faschismus: zu sagen, ich und meine Art sind besser als eine andere Art, und deswegen muss die andere Art sterben – damit meine Art überleben kann. Das geht nur ohne Verbindung zu Menschen – anders kann ich mir das nicht vorstellen. Zumindest während des Spiels habe ich das gemerkt: Es geht einfach nicht. Ich kann mich weder mit den Kindern verbinden noch mit dem Garten, den Blumen oder den Tieren, die da rumlaufen. Geht nicht.
Eigentlich wollten Sie die Rolle der Faschistin Höss erst nicht spielen. Was hat Sie schliesslich umgestimmt?
Es würde halt sonst jemand anders tun. Irgendwann habe ich festgestellt, dass es ziemlich feige ist, sich nicht damit auseinanderzusetzen. Es nicht an sich heranzulassen und zu sagen: «Die da haben mit mir nichts zu tun, das sollen mal andere spielen.» Das ist so ein komischer Selbstschutz, und natürlich könnte ich das mein ganzes Leben so weiterziehen. Aber es ist Teil der Geschichte des Landes, in dem ich lebe. In der Zusammenarbeit mit Jonathan Glazer fand ich es dann möglich, es zu machen. Auch, weil ich seinen Ansatz so geltend fand.
Welcher Ansatz ist das?
Er spricht darüber, was Menschen Menschen antun können – und dass das jeden betrifft. Das ist etwas, was ich in diesem Film gelernt habe: Faschist zu werden, ist eine Entscheidung, die man trifft, und nicht etwas, das einem so passiert. Man entscheidet sich dafür, dass andere Menschen einem egal sind. Man entscheidet sich dafür, dass man den Tod anderer Menschen in Kauf nimmt, um ein eigenes, schönes Leben zu haben. Das ist vielen Menschen heute, glaube ich, auch nicht fremd. Um dieses Unbehagen geht es und dass es einem bekannt vorkommt.