Klimainitiative: Die Welt von morgen denken
In einigen Tagen stimmt Basel darüber ab, ob die Stadt bis 2030 klimaneutral werden soll. Hinter dem Begehren steht eine Bewegung, die schon jetzt Erstaunliches erreicht hat.
Es ist Samstagmorgen, 10 Uhr. Rund siebzig Personen haben sich im Theatersaal des Basler Schulhauses Leonhard in einem Kreis versammelt. Viele halten eine Tasse Kaffee in der Hand, knabbern an einem Gipfeli. Roman Künzler (41) und Nicole Gisler (30), beide in einer roten Weste, erklären den Versammelten, was für den Tag geplant ist. Es ist der zweite Aktionstag von «Basel 2030», einer lokalen Initiative, die derzeit für Aufsehen sorgt.
Am Sonntag, 27. November, kommt ihre kantonale Volksinitiative für Klimagerechtigkeit zur Abstimmung. In der Basler Verfassung soll festgeschrieben werden, dass der Ausstoss der Treibhausgase im Kanton «in allen Sektoren» bis 2030 «auf netto null sinkt». Die Anwesenden wollen den ganzen Tag in der Stadt unterwegs sein und für die Initiative werben. Gisler fasst zusammen: «Wir teilen uns in zehn Gruppen auf. Wir sprechen auf den Strassen, auf Plätzen und in Pärken die Menschen an, und wir gehen in ausgewählten Quartieren von Tür zu Tür. Wir haben Flyer, Fahnen, Wimpel und Plakate dabei.»
Reden lassen
Entstanden ist die Idee der Klimagerechtigkeitsinitiative während sogenannter «Klimaznachts», an denen sich Aktivist:innen ab 2019 über mögliche Projekte unterhielten. Daraus ist eine Gruppe aus 12 Leuten entstanden, die inzwischen auf 120 angewachsen ist. Entscheide werden basisdemokratisch gefällt, alle arbeiten ehrenamtlich mit. Viele der Beteiligten sind in Quartiergruppen organisiert, über die sie für die Initiative werben, aber teilweise auch noch andere Projekte verfolgen. Unterstützt wird die Initiative von Prominenten wie dem Basler Bischof Felix Gmür oder der Klimawissenschaftlerin Sonia Seneviratne – aber auch von Firmen, Gewerkschaften, Parteien und Umweltgruppen.
«Wir reden maximal dreissig Prozent der Zeit, sonst hören wir aktiv zu.»
Nicole Gisler, «Basel 2030»
Roman Künzler, der in der Gewerkschaft Unia arbeitet, klärt an diesem Morgen die Anwesenden über den aktuellen Stand des Abstimmungskampfs auf: Die Stimmcouverts sind verteilt, ein kleiner Teil der Stimmberechtigten hat das Couvert bereits abgeschickt. Da nicht gleichzeitig eine nationale Vorlage an die Urne komme, sei mit einer geringen Beteiligung zu rechnen. Das Parlament hat der Initiative einen Gegenvorschlag entgegengestellt, der das Netto-null-Ziel erst bis 2037 erreichen will. Bekämpft werden Initiative und Gegenvorschlag von der SVP und der Liberal-Demokratischen Partei sowie dem Gewerbeverband der Stadt.
Nicole Gisler sagt: «Wir propagieren, zweimal Ja in die Urne zu legen und bei der Stichfrage unsere Initiative zu unterstützen. Bitte gebt euch Mühe, das verständlich zu erklären.» – «Es gewinnt die Partei, die besser mobilisiert», ergänzt Künzler. «Fragt die Leute, was sie beschäftigt. Jedes Mal, wenn wir solche Aktionen gemacht haben, schlossen sich uns neue Leute an.» Gisler schiebt nach: «Es geht darum, Strukturen aufzubauen. Fragt nach Telefonnummern, sammelt Kontaktadressen, damit wir Einladungen für unsere Versammlungen verschicken können.»
Gisler erinnert die Anwesenden nochmals an die Grundsätze guter Gesprächsführung: «Stellt offene Fragen, lasst die Leute reden. Denkt an die Siebzig-zu-dreissig-Regel: Wir reden maximal dreissig Prozent der Zeit, sonst hören wir aktiv zu.» Und Roman Künzler ergänzt: «Sagt immer, dass wir nicht von einer Partei kommen, sondern direkt aus der Bevölkerung. Das spricht viele an.» Nach dem «Briefing» decken sich alle Anwesenden an grossen Tischen mit dem Kampagnenmaterial ein, ziehen sich eine rote Weste mit der Aufschrift «Klimagerechtigkeitsinitiative Basel 2030» über und stellen sich bei einem Tisch am Ausgang ein Lunchpaket für die Mittagspause zusammen. Dann ziehen sie los.
Fliegen, Duschen, Konsum
Agnes Jezler klappert zusammen mit einer Kollegin eine Strasse im St.-Johann-Quartier ab. Die beiden gehen von Haus zu Haus und drücken jede Klingel. Während die einen aus dem Fenster rufen, dass sie keine Zeit hätten, kommen andere auf die Strasse runter zum Gespräch, wieder andere bitten ins Treppenhaus. Jezler beginnt meist mit der allgemeinen Frage: «Wie geht es Ihnen mit dem Klima?» Dann beginnen viele schon loszureden – das Thema beschäftigt stark. Zuerst sprechen viele über das persönliche Verhalten, über das Fliegen, das Duschen, den eigenen Konsum; dann über Politik und die Frage, was der richtige Weg sei.
Für Jezler ist es nicht das erste Mal, dass sie in Basel von Tür zu Tür geht, sie geniesst die Gespräche. Sie hört aktiv zu, nickt, lässt ausreden. «Mir geht es besser, wenn ich das mache», sagt sie. Beruflich arbeitet Jezler bei Greenpeace, wo sie sich mit dem Thema sozioökonomische Transformation befasst. Über die Initiative informiert sie in den Gesprächen fast beiläufig. Wer nicht stimmberechtigt ist, kann eine Petition unterschreiben, die die Ziele der Initiative unterstützt.
Zur Mittagspause treffen sich einige Gruppen im St.-Johanns-Park, wo auch Kinder beaufsichtigt werden, deren Eltern sich am Aktionstag beteiligen. Der Park liegt direkt am Rhein. Auch Nicole Gisler kommt vorbei. Sie arbeitet innerhalb der Klimagerechtigkeitsinitiative in der Arbeitsgruppe Organizing, ein Schlüsselwort der Kampagne: «Wir hatten von Anfang an den Plan, eine Bewegungsinitiative zu sein», sagt Gisler. Es geht also nicht nur darum, die Initiative durchzubringen, sondern auch eine Bewegung aufzubauen, neue Leute zu gewinnen, die nicht schon politisch aktiv sind. «Wir müssen aus dem eigenen sozialen Umfeld rauskommen, mehr Menschen gewinnen.» Es gehe um einen «Machtaufbau von unten», sagt Gisler. Neue Leute in die Struktur zu integrieren, sei harte Arbeit.
Die Bewegung stützt sich auf Modelle gewerkschaftlicher Organisierung, hat sich aber auch von Leuten aus dem Umfeld der Berliner Volksinitiative zur Enteignung von grossen Immobiliengesellschaften beraten lassen. Diesen gelang es 2021, über 56 Prozent der Abstimmenden hinter sich zu bringen.
Wie Jezler arbeitet auch Gisler beruflich in einer NGO, zudem sitzt sie an ihrer Masterarbeit. «Politischer Aktivismus ist Teil meines Lebens. Wenn Leute sehen, dass sie etwas verändern können, dann sind sie auch bereit, viel Zeit zu opfern.» Und so arbeitet Gisler nicht nur im Organizing mit, sondern auch noch in der Quartiergruppe Matthäus im Kleinbasel. Dort ist sie für ein paar Strassenzüge verantwortlich. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, einmal mit jedem und jeder einzelnen Bewohner:in dieses Abschnitts zu sprechen.
Ein passabler Gegenvorschlag
Hélène Chassin ist in der Quartiergruppe St. Johann aktiv und oft im Park anzutreffen. Die Mutter von drei Kindern wurde durch einen Flyer in einem Quartierladen auf die Bewegung aufmerksam. Die Biologin wohnt seit zwanzig Jahren hier. «Von Tür zu Tür gehen, würde ich nicht wollen, da wäre mir unwohl», sagt sie. «Ich hätte Angst, die Leute zu verärgern.» In ihrer Quartiergruppe seien zwölf Leute aktiv, fünfzig im Chat. Neben der Werbung für die Initiative versucht die Gruppe, sogenannte Superblocks nach dem Vorbild Barcelonas zu schaffen; also abgegrenzte, begrünte Begegnungszonen innerhalb des Quartiers, wo der Durchgangsverkehr keinen Platz hat. Anfang September hat sie bei den Behörden eine Petition für drei Superblocks eingereicht.
Auch Axel Schubert kommt an diesem Nachmittag noch beim St.-Johanns-Park vorbei. Schubert ist einer der Initianten der Klimagerechtigkeitsinitiative. Der fünfzigjährige Stadtplaner arbeitet als Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz. «Die Initiative ist jetzt schon ein Erfolg», sagt er. Während die Basler Regierung als Gegenvorschlag Netto-null bis 2040 wollte, setzte sich der Grosse Rat schliesslich für den Kompromiss von 2037 ein. «Das gab viele Diskussionen. Am Schluss war auch die FDP für den Gegenvorschlag.»
Besonders freut Schubert, dass im Gegenvorschlag auch ein ambitiöser Absenkpfad enthalten ist. «Gewinnt der Gegenvorschlag, so würde innerhalb der bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen das Beste herausgeholt», sagt er. «Doch leider ist das nicht genug.» Um das Pariser Klimaziel zu erreichen, müssten Städte wie Basel noch früher klimaneutral sein. «Dazu müssen wir die Rahmenbedingungen des Möglichen verändern.»
Doch wie wollen die Initiant:innen das erreichen? Der Grosse Rat macht für seinen Gegenvorschlag etwa geltend, dass der Fernwärmeausbau erst 2037 abgeschlossen sei. Auch gibt es Bundesgesetze, die den Spielraum einschränken. So kann man niemandem verbieten, in Basel mit einem Benzinauto herumzufahren. Schubert räumt ein, dass eine Umsetzung der Initiative nicht einfach wäre. «Der Teufel steckt im Detail. Nur schon alle Häuser bis 2030 energetisch zu sanieren, wird sehr schwierig.» Aber es brauche ein Momentum. «Wir erschaffen dieses, indem wir sagen, dass wir nicht weitermachen können wie bisher. Wir müssen die Welt von morgen denken.» Die Zahl 2030 würde die Latte setzen, Planungssicherheit geben und Verbindlichkeit schaffen. Alles, was ab 2030 noch an Treibhausgasen ausgestossen werde, müsse seriös kompensiert werden.
Am Abend um halb fünf treffen sich alle wieder im Schulhaus. Es gibt ein kurzes «Debriefing» im Kreis. Einzelne erzählen von ihren Erfahrungen, es gab viele positive Rückmeldungen. Die Stimmung ist gut. «Wir haben diesen Samstag rund 5000 Gespräche geführt», sagt Künzler. Jemand macht den Vorschlag, nächste Woche nochmals loszuziehen. Viele melden sich.
Wird Basel führend?
Die Basler Klimagerechtigkeitsinitiative wird von den Grünen, der linksalternativen BastA!, dem Mieter:innenverband sowie dem VCS unterstützt. Die SP ruft zwar auch zum Ja auf, empfiehlt jedoch, bei der Stichfrage dem Gegenvorschlag des Parlaments den Vorzug zu geben. FDP, Grünliberale und die Mitte-Partei lehnen die Initiative ab, stellen sich aber hinter den Gegenvorschlag.
Sollte nur schon der Gegenvorschlag angenommen werden, würde Basel im Kampf gegen die Klimaerhitzung die Führungsrolle in der Schweiz übernehmen. Zürich hatte in einer Volksabstimmung im Mai die Vorgabe von netto null bis 2040 in der Gemeindeordnung verankert. Im Klimareglement der Stadt Bern ist seit dem Frühling das Ziel 2045 festgeschrieben. Mit dem Ziel 2030 wäre Basel auch europaweit auf einem Spitzenplatz.