Kommentar von Jan Jirát: Kyjiw statt Birr

Nr. 47 –

Die Schweiz sollte dringend benötigte Gasturbinen an die Ukraine liefern. Die Ablehnung des Bundes beruht auf falschen Annahmen.

Ausgerechnet die Grünen blieben in der Debatte um das Reservekraftwerk in Birr (siehe WOZ Nr. 45/22) lange Zeit still. Dabei müsste die Errichtung neuer fossiler Infrastruktur für eine ökologisch geprägte Partei unbedingt eine rote Linie markieren. Doch die über den Sommer von der Bundesverwaltung mantraartig wiederholte Gefahr einer möglichen Strom- und Energiemangellage liess die Grünen verstummen. Mittlerweile hat sich die Situation im Energiebereich, wo Importabhängigkeiten bestehen, aber entspannt: Die Gasspeicher in den umliegenden Ländern sind gut gefüllt, weil das russische Gas weitgehend durch Flüssiggas (LNG) aus anderen Quellen ersetzt werden konnte, in Frankreich sind wieder mehr AKWs am Netz als in den Sommermonaten, und die Schweizer Speicherseen weisen ebenfalls gute Füllstände auf. Anfang November publizierte das Bundesamt für Energie (BFE) eine Studie, die aufzeigte, dass in der Schweiz eine Stromunterversorgung im beginnenden Winter unwahrscheinlich ist.

Entscheidend ist letztlich der politische Wille, und der ist beschämend schwach.

Angesichts dieser Ausgangslage sind die Grünen doch noch aufgewacht. Ihr Thurgauer Nationalrat Kurt Egger hat am Wochenende einen – zumindest kurzfristig – sinnvollen und originellen Vorschlag ins Spiel gebracht: Er fordert den Bundesrat in einem offenen Brief auf, mindestens vier der acht Gasturbinen, die demnächst im temporären Reservekraftwerk in der Aargauer Gemeine Birr installiert werden sollen, an die Ukraine zu verschenken. Dort sei die Stromversorgungslage nach gezielten Bombardements durch die russischen Streitkräfte mehr als prekär, begründet Egger seinen Vorstoss. Das belaste die dortige Zivilbevölkerung – gerade auch angesichts des beginnenden Winters. Hinzu komme, dass die Schweiz verglichen mit anderen Ländern noch wenig finanzielle Unterstützung für die Ukraine geleistet habe. Tatsächlich beschränkt sich die bis Ende des Jahres vorgesehene finanzielle Soforthilfe des Bundes auf magere 100 Millionen Franken. Zum Vergleich: Die weit weniger reiche Tschechische Republik hat seit Kriegsausbruch mindestens 200 Millionen Franken Soforthilfe für die Ukraine zur Verfügung gestellt.

Beim federführenden Bundesamt für Energie will man vom Vorstoss der Grünen nichts wissen. Der Verzicht auf einen Teil der Reserve würde die Versorgungssicherheit in diesem und den darauffolgenden drei Wintern – das Kraftwerk in Birr soll 2026 wieder abgebaut werden – schwächen, antwortet das BFE auf Anfrage. Die Schweiz unterstütze die Ukraine bereits im Energiebereich. So habe die nationale Netzbetreiberin Swissgrid der Vernetzung der Ukraine mit dem kontinentaleuropäischen Stromnetz «solidarisch zugestimmt». Und Schweizer Stromunternehmen hätten der Ukraine Material wie «Notstrom-Aggregate, eine mobile Not-Heizung oder Batterien» zur Verfügung gestellt. «Ein schneller Transport und Einsatz der Turbinen in die Ukraine ist weder juristisch noch technisch möglich», schreibt das BFE.

Tatsächlich aber sind die Turbinen, die eigentlich Flugzeugtriebwerke sind, geradezu prädestiniert für Einsätze in Notsituationen. Der Hersteller General Electric bewirbt das Produkt explizit als zuverlässigen Stromerzeuger nach Naturkatastrophen, Kraftwerksausfällen oder Netzunterbrüchen.

Technisch gesehen ist der Vorstoss der Grünen auf jeden Fall umsetzbar, und auch mögliche juristische Hürden liessen sich ausräumen, entscheidend ist letztlich der politische Wille. Und dieser ist bisher in Bezug auf die finanzielle Unterstützung der Ukraine wie auch bei der Umsetzung der Sanktionen beschämend schwach. Noch besteht die Chance, diesen Egoismus zu überwinden. Kurt Egger will einen dringlichen Vorstoss in die Wintersession einbringen, die kommende Woche beginnt. Denn die Zeit eilt. Derzeit befinden sich die acht Turbinen auf dem Weg nach Birr, eine Weiterleitung in die Ukraine ist realistischer, solange sie noch nicht dort aufgestellt und montiert sind. In Kyjiw werden die Turbinen jedenfalls dringend gebraucht, während sie in Birr aller Voraussicht nach ungenutzt herumstehen werden.