Kultur im Krieg: Verurteilt für ein Like auf Instagram

Nr. 47 –

Bleiben oder flüchten? Seit Putins Einmarsch in die Ukraine ist die Lage für russische Kulturschaffende schwierig geworden. Ein paar Schlaglichter auf den künstlerischen Widerstand gegen das Regime.

Tschulpan Chamatowa bei einer Aufführung des Stückes «Post Scriptum» in Riga
Hat Russland bereits zu Beginn der Invasion in die Ukraine verlassen: Tschulpan Chamatowa, hier in Riga bei einer Aufführung des Stückes
«Post Scriptum» mit Passagen aus Texten der 2006 ermordeten russischen Journalistin Anna Politkowskaja.
Foto: Jānis Deinats

Zwei Gruppen leiden am meisten unter Verfolgung und Zensur, seit der russische Präsident Wladimir Putin am 24. Februar den Beginn seiner «Spezialoperation» verkündet hat: politische Aktivist:innen und Kulturschaffende. Die Aktivist:innen werden für ihre Aktionen und andere Stellungnahmen gegen den Krieg mit Geldbussen bestraft oder ins Gefängnis geworfen. Von den Kulturschaffenden wird absolute Regimetreue erwartet.

Wer sich verweigert, kann nicht mehr weiterarbeiten. Strenge Gesetze gegen eine «Diskreditierung der russischen Armee» wurden erlassen: Menschen konnten verurteilt werden, wenn sie militärkritische Sätze aus Klassikern der Weltliteratur zitierten, das Wort «Krieg» aussprachen, auf öffentlichen Plätzen ukrainische Lieder sangen oder an Metrostationen weisse A4-Blätter in die Luft hielten. Manchmal reichte sogar ein Like in den sozialen Medien.

Der Arsch eines Präsidenten

Die 32-jährige Sascha Skotschilenko etwa wurde verhaftet, weil sie bei einer Performance in einem Supermarkt Preisschilder durch Antikriegsslogans ersetzte. Kürzlich verlängerte ein Gericht ihre Untersuchungshaft um ein weiteres halbes Jahr, der Künstlerin aus St. Petersburg drohen nun bis zu zehn Jahre Haft. Amnesty International betrachtet Skotschilenko als politische Gefangene.

Erst reichte es, einfach still zu bleiben, nun muss man den Krieg explizit unterstützen.

Viele Kulturschaffende mussten Russland fluchtartig verlassen. Doch die Mehrzahl blieb und fügte sich den neuen Regeln. Sie halten den Mund, um ihre Arbeit nicht zu gefährden. Nur sehr wenige finden den Mut, sich öffentlich zu wehren. Unter ihnen ist der 65-jährige Juri Schewtschuk, ein russischer Rockstar. Er hinterfragte bei mehreren Konzerten die «Spezialoperation» offen. Schewtschuk ist der Sohn eines Funktionärs der Kommunistischen Partei und hat das System schon früher angegriffen. 1982 führte er den Song «Schiess nicht» auf, daraufhin wurde er vom KGB vorgeladen. Vierzig Jahre später beschuldigt man ihn der «Diskreditierung der russischen Armee», als er denselben Song in der baschkirischen Hauptstadt Ufa auf die Bühne bringt. Doch der Sänger ist in Russland so berühmt, dass kein Richter seinen Fall verhandeln will.

Die Staatsmacht allerdings hat ihm nie verziehen, dass er einmal im Scherz gesagt hat, Russland sei nicht der «Arsch eines Präsidenten, den ich auf keinen Fall küssen will», und hat ihn offiziell angeklagt. Alle seine Konzerte wurden abgesagt, und er musste eine Busse zahlen. Seine extrem erfolgreiche Band DDT hat nun aber – auch mithilfe von Crowdfunding – ein neues Album aufgenommen und herausgebracht: «Kreativität in der Leere».

Eine ganz andere Geschichte ist die des Britpopsängers Alexander Wassiljew. Während Schewtschuk von ganz unterschiedlichen Menschen verehrt wird, sind Wassiljews Fans mehrheitlich junge, europäisch orientierte, intellektuelle Städter:innen. Der 53-Jährige hatte sich bis vor kurzem nie politisch geäussert. Auch zum Krieg schweigt er. Aber an einem Festival im August widmete er «Es gibt keinen Ausweg», einen seiner bekanntesten Songs, den Musiker:innen, die aus Russland fliehen mussten. Konzertbesucher:innen zeigten ihn an, und alle weiteren, längst geplanten Konzerte seiner Band Spleen wurden abgesagt. Zwar sind sie nicht offiziell verboten, aber kein Veranstalter ist bereit, das Risiko auf sich zu nehmen.

Kollaboration als Fehler

Bei denjenigen, die sich entschieden haben, in Russland zu bleiben, lässt sich noch eine weitere Verhaltensweise beobachten: die alte russische Praxis des stillen Widerstands. Jewgenija Berkowitsch*, eine Schülerin des international bekannten Regisseurs Kirill Serebrennikow und Spross einer Familie mit vielen berühmten Menschenrechtler:innen, kann man eigentlich kaum als «still» bezeichnen. Sie war immer schon für ihre politischen Stellungnahmen sowie für ihre pazifistischen Performances bekannt.

Am 24. Februar trat die 36-Jährige ganz allein in einen Streik und wurde zehn Tage lang in Gewahrsam genommen. Seither sind neue Gesetze und Einschränkungen der Redefreiheit in Kraft getreten, und sie kann nicht mehr öffentlich protestieren, da sie als Mutter zweier adoptierter Teeniemädchen schlicht nicht riskieren kann, verhaftet und auf unbestimmte Zeit eingesperrt zu werden. Trotzdem tut sie, was unter den gegebenen Umständen noch möglich ist. Sie schreibt Antikriegsgedichte, die im russischen Internet verbreitet werden. Zusammen mit dem Nobelpreisträger und Journalisten Dmitri Muratow und anderen Celebritys hat sie eine Auktion organisiert, um politische Gefangene zu unterstützen. Und sie macht Theateraufführungen mit ihrer unabhängigen Gruppe «Soso Töchter».

Künstlerin Sascha Skotschilenko während Untersuchungshaft im Gefängnis
Noch länger in Untersuchungshaft: Künstlerin Sascha Skotschilenko. Foto: CC BY-SA 4.0

Nun erhält die Regisseurin keine Aufträge von staatlichen Theatern mehr, wie sie sagt, und sie muss unter falschem Namen als Autorin, Kuratorin und Übersetzerin arbeiten. Berkowitsch schliesst nicht aus, dass sie Russland irgendwann verlassen muss, wenn ihr Leben in Gefahr sein sollte. Aber wie viele andere russische Intellektuelle denkt sie, dass sie «nützlicher» sei, wenn sie bleibe.

Ihre Kollegin, die bekannte Theater- und Filmschauspielerin Tschulpan Chamatowa, hat Russland bereits zu Beginn der Invasion in die Ukraine verlassen. Sie war in der Wohltätigkeitsarbeit aktiv, in einer Stiftung für krebskranke Kinder etwa, und musste in dieser Funktion lange mit dem Regime zusammenarbeiten. Doch nach dem 24. Februar hat sie jede Kooperation abgebrochen, auch jene mit dem Theater Sowremennik, wo sie während über zwanzig Jahren als Schauspielerin auf der Bühne stand. Heute sagt sie, ihre Zusammenarbeit mit dem Regime sei ein riesiger Fehler gewesen. Sie habe – wie viele andere auch – Putin und seine Absichten falsch eingeschätzt.

Chamatowas frühe Flucht wurde zum Vorbild für jene Kulturschaffenden, die unsicher waren, ob sie ausserhalb von Russland Fuss fassen könnten, vor allem wegen sprachlicher Barrieren. Unterdessen hat sich Chamatowa in der lettischen Hauptstadt Riga niedergelassen und einen Vertrag mit dem Neuen Theater Riga unterschrieben, das vom international inszenierenden Regisseur Alvis Hermanis geleitet wird. Gemeinsam haben sie das Stück «Post Scriptum» aufgeführt – einen Kommentar zur Gegenwart, mit Passagen aus Texten der 2006 ermordeten russischen Journalistin Anna Politkowskaja. Im Moment spielt Chamatowa noch auf Russisch, sie lernt aber Lettisch, um künftig in dieser Sprache auftreten zu können.

Geliebte Regimekritikerin

Unter denen, die ins Exil gegangen sind und genauso wie Tschulpan Chamatowa deswegen von der staatlichen Propaganda hart schikaniert werden, sind auch zwei Rockstars aus unterschiedlichen Generationen. Zemfira Ramazanowa hat Russland zusammen mit ihrer Freundin, der Schauspielerin Renata Litwinowa, direkt nach ihren lang erwarteten Konzerten in Moskau am 24. und 26. Februar verlassen. Die 46-Jährige war zu Beginn des neuen Jahrtausends die populärste Sängerin Russlands. Ramazanowa hat sich gegen den Krieg geäussert, wofür sie heftig kritisiert wurde – sowohl von den Unterstützer:innen als auch von Gegner:innen des Regimes: Die einen monierten, Künstler:innen sollten «über dem Kampf stehen» und hätten kein Recht, sich zu politischen Fragen zu äussern. Die anderen griffen Ramazanowa an, weil sie nicht radikal genug sei.

Die beste Antwort an diese Kritiker:innen war Ramazanowas unmissverständlicher Antikriegssong, den sie im Mai nach der Tragödie von Mariupol veröffentlichte. Im Moment tourt sie durch Europa und tut ihre Meinung zu Russland offen kund. Bei ihrem Konzert in Tel Aviv trafen Ramazanowa und Litwinowa einen weiteren Superstar im Exil: Alla Pugatschowa, eine der wichtigsten russischen Popsängerinnen des 20. Jahrhunderts. Die 73-jährige Pugatschowa galt immer schon als frei und unabhängig. Die Sowjetmedien kritisierten ihre «Vulgarität», das provokante Auftreten und ihre Kleider, doch das Publikum vergötterte sie. Diese Liebe war so gross, dass die Anekdote kursierte, Leonid Breschnew, der einstige Generalsekretär der Kommunistischen Partei, sei nur ein kleiner politischer Funktionär unter Pugatschowa gewesen.

Pugatschowas Ehemann, der bekannte Satiriker Maxim Galkin, zählt unterdessen zu den prominentesten Kämpfern gegen Putins Regime. Im September wurde er als «ausländischer Agent» klassifiziert, ein neuer Spezialstatus, der die Bürgerrechte der Betroffenen massiv einschränkt. Pugatschowa reagierte umgehend und verlangte, ebenfalls «ausländische Agentin» genannt zu werden – ihr erstes öffentliches Antikriegsstatement. Ihr Instagram-Post wurde eine Million Mal gelikt, und viele ältere «Opfer» von Putins Propaganda begannen darauf, die eigene Haltung zu überdenken. Pugatschowas Statement machte die Regimetreuen wütend, weil man erwartet hatte, dass die mit mehreren «Verdienstorden für das Vaterland» Dekorierte den Mund halten würde.

Identität und Ideale

Überhaupt werden die Kulturschaffenden nun immer härter angegangen. Wenn es zuerst noch reichte, einfach still zu bleiben, muss man jetzt den Krieg explizit unterstützen. Dazu gehört etwa, dass Künstler:innen einen Teil der Einnahmen aus Ticketverkäufen abgeben müssen und in den von Russland besetzten Gebieten auftreten. Wer das Land bis jetzt nicht freiwillig verlassen wollte, wird nun quasi dazu gezwungen: durch Kündigungen, Drohungen, Kürzungen von Unterstützungsgeldern. Die Männer riskieren, im Rahmen der «teilweisen Mobilisierung» zum Kriegsdienst eingezogen zu werden.

Es ist offensichtlich, dass die Autoritäten den Einfluss fürchten, den manche Künstler:innen weiterhin auf die Öffentlichkeit ausüben. Das Regime hasst die demokratischen Werte, die viele Kulturschaffende hochhalten, und versucht, alles, was in den letzten dreissig Jahren im Kulturbereich aufgebaut wurde, endgültig zu zerstören. Nun wird sogar damit gedroht, Bücher von oppositionellen und geflohenen Autor:innen zum Verschwinden zu bringen und ihre Namen aus den Theaterprogrammheften zu streichen.

Das Regime zählt darauf, dass russische Künstler:innen im Exil nicht weiterarbeiten können, dass sie sich unsichtbar und isoliert fühlen. Und leider zeigt die Erfahrung aus früheren Emigrationswellen, dass sich russische Exilant:innen – im Unterschied zu den meisten aus anderen Nationen – selten mit anderen zusammenschliessen, um gemeinsame Projekte zu erarbeiten, auch nicht untereinander. Die Zukunft wird zeigen, ob die russischen Künstler:innen es diesmal besser schaffen, sich kulturell mit der Welt zu verbünden – natürlich ohne dabei ihre Identität und ihre humanitären Ideale aufzugeben.

Übersetzung aus dem Englischen: Daniela Janser

Nika Parchomowskaia ist eine russische Wissenschaftlerin, Kritikerin, Kuratorin und Theaterexpertin. Seit Juni 2022 lebt sie in Frankreich. Die Sprachforscherin und Kulturjournalistin Inna Rozowa hat für verschiedene russische Medien geschrieben. Auch sie lebt heute in Frankreich.

* Korrigenda vom 8. Mai 2023: In der Printversion sowie in der ursprünglichen Onlineversion wurde Jewgenija Berkowitsch irrtümlich als Xenia Berkowitsch bezeichnet.

Nachtrag vom 11. Mai 2023 : Eine ganz normale Theatermacherin

  

Am 4. Mai sind die russische Regisseurin und Theaterdirektorin Jewgenija (auch Schenia genannt) Berkowitsch und die Dramatikerin Swetlana Petrijtschuk in Moskau verhaftet worden. Sie werden wegen ihrer gemeinsamen Theaterarbeit «Finist – Heller Falken» aus dem Jahr 2020 der «Rechtfertigung von Terrorismus» beschuldigt.

Das Stück erzählt die Geschichten russischer Frauen, die von Terroristen via Social Media mit Liebes- und Eheversprechen rekrutiert werden. «Finist – Heller Falke» verwob den Plot eines alten russischen Märchens mit dokumentarischen Zeug:innenaussagen, teils aus Gerichtsprotokollen. Das Theaterstück, das offenkundig eine antiterroristische Haltung hat und sich mit den Frauen solidarisiert, wurde vom russischen Kulturministerium unterstützt. Es tourte durchs ganze Land und gewann 2022 zwei Goldene Masken, einen der wichtigsten russischen Theaterpreise.

Nach der russischen Invasion in die Ukraine schrieb Berkowitsch Gedichte, die kürzlich in Israel auch als Buch herauskamen. In ihnen spiegeln sich ihre Gefühle über die Lage in Russland. Die Gedichte sprachen zahlreichen Russischsprechenden auf der ganzen Welt offenkundig aus der Seele. Als sie verhaftet wurde, haben viele Berkowitschs Gedichte auf Facebook geteilt, um Unterstützung zu signalisieren und gegen die absurde Verhaftung zu protestieren.

Berkowitsch, die stets gesagt hat, dass sie im Land bleiben wolle, hat ihre Theaterprojekte in Russland im vergangenen Jahr fortgesetzt. Letzten Dezember hat sie zum ersten Mal ein eigenes Stück inszeniert: «Unser Schatz» wurde ins Repertoire des Moskauer Theaters «Der innere Raum» aufgenommen und erzählt die traditionelle Weihnachtsgeschichte in Form eines Krippenspiels, das Poesie, Prosa, Dokumentarisches und Improvisation verbindet. Im Januar fing sie am Moskauer Haus der Kultur GES-2 an, mit gehörlosen Menschen zu arbeiten, nachdem sie sich bereits früher für inklusives Theater engagiert hatte. Im April feierte das Stück «Mumu» mit hörbehinderten Schauspieler:innen unter ihrer Regie Premiere.

Berkowitsch und Petrijtschuk wurden für zwei Monate vorsorglich in Haft genommen. Bei einer Verurteilung drohen ihnen bis zu sieben Jahre Haft in einem Straflager.