Geflüchtetenlager im Libanon: An dieser Schawischa führt kein Weg vorbei

Nr. 48 –

551 syrische Geflüchtete leben unter ihrer Aufsicht: Das «Camp Amsche» wird als eines von wenigen von einer Frau geleitet. Was macht sie anders als die Männer?

Amsche, die Leiterin des Lagers für Geflüchtete, steht vor improvisierten Behausungen des Lagers, welches in der libanesischen Bekaa-Hochebene liegt
Weil Amsche gegen ihren Willen verheiratet wurde, verbrannte sie aus Wut ihre Papiere. Das Lager für Geflüchtete hat sie ohne das Wissen ihres Mannes eingerichtet.

Die Schawischa sitzt im Schneidersitz auf dem Betonboden, eine Zigarettenschachtel neben sich. Zwei Beamte haben auf einem Sofa Platz genommen und blättern durch die Liste mit den Namen der Campbewohner:innen. Es ist düster in dem grossen Raum; einzig durch ein kleines Fenster dringt grelles Tageslicht. «Hat sich etwas geändert?», fragt einer der Männer. «Nichts», sagt sie.

Sie ist die Vorsteherin dieses Geflüchtetenlagers – die Schawischa, wie man hier sagt. Das Lager liegt inmitten von weiten Feldern in der libanesischen Bekaa-Hochebene, unweit der Grenze zu Syrien. Grosse Zelte stehen dicht aneinander, die im Inneren in kleinere Räume unterteilt sind: Hier leben rund 71 Familien, 551 Menschen. Ihren richtigen Namen will die Schawischa nicht nennen. Als sie vor Jahren gegen ihren Willen verheiratet wurde, verbrannte sie aus Wut all ihre Papiere. Heute kennen sie alle einfach unter dem Namen Amsche.

«Wo ist das Brot?», fragt der Mann. «Es gibt keins», sagt Amsche.

Amsche ist eine korpulente Frau Mitte vierzig. Sie hat einen scharfen Blick, ihre Stimme ist rau, und wenn sie lacht, blitzen Goldzähne auf. Sie scherzt mit den beiden libanesischen Polizisten, als wären sie Geschäftskunden, mit denen sie gerade um einen Businessdeal feilscht. Einzig die Uniform der beiden Männer macht klar, wer hier mehr Macht besitzt.

Amsche ist eine von ganz wenigen syrischen Frauen im Libanon, die ein Geflüchtetenlager leiten. In den allermeisten Fällen ist der Schawisch ein Mann: eine Selbstverständlichkeit, die in den konservativen Gemeinschaften kaum infrage gestellt wird. Dass sie als Frau nun diese Rolle innehat, scheint ihr allerdings kaum der Rede wert: «Mir ist egal, was die Leute denken», sagt sie. «Wichtig ist, was ich denke.»

Ein Mann steckt den Kopf zur Tür herein. «Wo ist das Brot?», fragt er. «Es gibt keins mehr», sagt Amsche. Es ist Sommer 2022. Wegen des Krieges gegen die Ukraine gelangt zeitweise kaum noch Weizen in den Libanon. Vor allem hier in der Bekaa-Ebene, wo Hunderte syrische Geflüchtetenlager liegen, mangelt es immer wieder an Brot.

Rund anderthalb Millionen Syrer:innen leben derzeit im Libanon. Ihre Situation ist seit Jahren prekär, doch seit im Libanon 2019 eine der schwersten Wirtschaftskrisen weltweit ausgebrochen ist und mit den globalen Lieferengpässen aufgrund des Krieges in der Ukraine hat sich ihre Situation nochmals dramatisch verschlechtert: Neun von zehn Syrer:innen im Libanon leben laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in extremer Armut.

Der Mann sei extra aus Bar Elias, ein paar Dutzend Kilometer weiter, angereist, weil er hoffe, dass sie ihm helfen könne, sagt Amsche. Und er scheint nicht der Einzige zu sein, für den Amsche eine Ansprechperson ist: Immer wieder kommen Leute in den Raum mit einer Frage oder einer Bitte. Es habe sich herumgesprochen, dass Amsche versuche zu helfen, sagt sie selbst.

Umstrittene Funktion

Obwohl dies ausserhalb des Libanon kaum bekannt ist, haben die Schawisch immensen Einfluss auf das Leben der Syrer:innen in den Lagern im Libanon. Sie sind selbst Syrer:innen, meist gut vernetzt und verfügten über genügend finanzielle Mittel, um Boden zu mieten und dort ein eigenes Geflüchtetenlager aufzubauen. Hier fungieren sie als Bindeglied zwischen den Bewohner:innen und den libanesischen Behörden. Sie stellen die Infrastruktur der Zeltsiedlungen bereit, ziehen die Jahresmiete von wenigen Hundert Dollar pro Zelt ein und verteilen die Hilfsgüter, die NGOs in die Lager bringen. Vor allem aber funktionieren sie als Arbeitsvermittler:innen, die die Geflüchteten als billige Arbeitskräfte zu lokalen Bäuer:innen bringen und dafür einen Teil ihres Lohns als Kommission einziehen.

Die Funktion der Schawisch ist umstritten. Sie sind zwar Teil der Gemeinschaft, meist stammen sie aus derselben Gegend in Syrien wie die Bewohner:innen ihres Lagers. Doch ihre Position verleiht ihnen eine Macht, bei der die Gefahr für Missbrauch und Ausbeutung gross ist. Denn wie sie ihre Lager leiten, wird kaum kontrolliert. Für den libanesischen Staat beschränkt sich das Interesse an den Schawisch darauf, mit ihrer Hilfe die Menschen in den Lagern überwachen zu können.

Flüchtlinge in einer improvisierten Behausung
Blick über die Dächer der Flüchtlingsunterkünfte

Im Gespräch betont Amsche deswegen immer wieder, dass sie ihr Lager anders leite, als dies andere Schawisch machen würden. Dass sie fair sei zu den Leuten, die bei ihr lebten – und auch für andere Unterstützung biete. Dass sie die Menschen nicht ausnütze.

Wenn Amsche über andere Schawisch spricht, hat sie kaum ein gutes Wort übrig. «Führung ohne Moral» wirft sie ihnen vor. Sie habe selbst sechs Monate in einem Lager bei einem Schawisch gelebt, sagt sie. «Um vier Uhr morgens mussten wir aufstehen und zur Arbeit», sagt sie. Von den 10 000 libanesischen Pfund oder rund sieben Franken, die sie für fünf Stunden Arbeit verdiente, zog er über die Hälfte für sich ab. «Stell dir vor, du arbeitest von morgens bis abends, um deine Familie zu ernähren, lässt deine Tochter und deinen Sohn arbeiten, und der Schawisch sitzt einfach da und lässt sich das Geld bringen. Ist das nicht verwerflich?»

Unter anderem diese Erfahrung brachte sie dazu, ihr eigenes Lager zu gründen und es anders zu leiten. Normalerweise hätten die Schawisch einen Vertrag mit einem einzelnen Bauern – ebenfalls fast immer ein Mann, und die Bewohner:innen seien verpflichtet, für diesen zu arbeiten. Bei Amsche jedoch sei jede:r frei, sich selbst Arbeit zu suchen. Zudem rühmt sie sich, das sauberste und sicherste Camp zu führen: weil sie bei Streitigkeiten zwischen den Bewohner:innen konsequent als Schlichterin eingreife.

Den grössten Unterschied macht Amsches Leitung vermutlich für die Frauen. In anderen Lagern sind es meist auch die Männer, die sich bei einer Frage oder einem Problem an den Vorsteher wenden. Nicht so bei Amsche: Sie ist Ansprechpartnerin für alle – und eben auch insbesondere für Frauen. Bei einem Besuch etwa setzt sich eine junge Frau dazu, die in einem benachbarten Lager mit ihrem zwanzig Jahre älteren Mann lebt. Amsche sei ihre Zuflucht, sagt sie, ihre einzige Freundin. Den Kontakt zu Gleichaltrigen würde er ihr – aus Angst, sie könnte einen Mann kennenlernen und sich verlieben – nicht erlauben.

Dass Amsche eine Vertrauensperson für die junge Frau ist, liegt vermutlich auch daran, dass sie selbst einst in einer ähnlichen Lage war. Amsche stammt aus der Gegend um die antike syrische Stätte Palmyra, wo die Terrororganisation Islamischer Staat vor ein paar Jahren historische Bauwerke in die Luft sprengte. Einen Grossteil ihrer Kindheit und Jugend verbrachte sie in Saudi-Arabien, wo ihr Vater damals lebte. Dort habe sie sich wohlgefühlt, erzählt Amsche. Umso grösser war ihr Schock, als sie mit einem Mann verheiratet wurde, der über zwanzig Jahre älter war als sie, und mit ihm in sein Dorf in die Nähe der syrischen Stadt Aleppo zog. «Es gab dort keinen Strom und kein fliessendes Wasser», sagt Amsche. «Ich dachte: Wo haben sie mich hingebracht?»

Sie setzte sich in den Kopf, dass sie nicht bleiben würde. «Irgendwann habe ich meinen Mann vor die Wahl gestellt», sagt sie. Entweder er komme mit ihr in den Libanon – das Nachbarland Syriens, in dem schon damals, ein Jahr vor Ausbruch des Krieges 2011, viele Syrer:innen als Gastarbeiter:innen lebten –, oder er bleibe bei seiner Familie. Sie aber würde gehen.

Amsche setzte sich durch und zog mit ihrem Mann und dessen Schwester in den Libanon. Schon damals sei vor allem sie es gewesen, die gearbeitet und das meiste Geld für die Familie verdient habe, sagt Amsche. Immer wieder betont sie, dass sie bis heute unabhängig von ihrem Mann sei: «Auch wenn ich nur ein Taxi nehme, bezahle ich es selbst», sagt sie. Selbst als sie beschlossen habe, ihr eigenes Lager aufzubauen, habe sie ihm nichts erzählt. Erst als sie das Land dafür gefunden hatte, stellte sie ihn vor vollendete Tatsachen.

Nur wenige Jobs sind erlaubt

Dass die Schawisch in den vergangenen Jahren eine so zentrale Stellung erreichten, liegt vor allem an der libanesischen Politik im Umgang mit den syrischen Geflüchteten. Sie verunmöglichte eine organisierte Unterbringung, um zu verhindern, dass die Syrer:innen wie einst die Palästinenser:innen dauerhaft im Land bleiben. Grosse, häufig vom UNHCR geführte Zeltstädte wie in Jordanien oder in der Türkei findet man im Libanon nicht.

Stattdessen müssen die Geflüchteten für ihre Unterbringung selbst sorgen: Sie müssen eine Wohnung mieten, wer Glück hat, kommt bei Verwandten unter. Rund zwanzig Prozent von ihnen – die ärmsten und vulnerabelsten – leben in inoffiziellen Siedlungen wie im «Camp Amsche». Hier leben sie zwar auch in Zelten, müssen aber selbst dafür noch Miete bezahlen.

Die Lage der syrischen Geflüchteten im Libanon wurde über die Jahre immer schwieriger. Seit 2014 dürfen sie nur noch in drei Wirtschaftszweigen arbeiten: auf dem Bau, als Putzhilfen oder in der Landwirtschaft. Vor allem aber der Ausbruch der Wirtschaftskrise hatte gravierende Folgen: Zuvor verdienten Syrer in der Landwirtschaft umgerechnet bis zu sieben Dollar pro Tag, Syrerinnen in der Regel noch weniger. Mit der Inflation – seit Oktober 2019 hat das libanesische Pfund über neunzig Prozent seines Werts verloren – schrumpfte ihr Lohn auf einen Bruchteil davon.

Viele können sich selbst das Essen kaum noch leisten. Sie nehmen nur kleinere Mahlzeiten zu sich, lassen manche ganz aus oder ernähren sich weniger ausgewogen. «In den meisten Familien findest du schwangere oder stillende Frauen, die nicht das Richtige essen können», sagt Talaat Bitar von der syrischen Hilfsorganisation Basmeh & Zeitooneh. «Sowohl libanesische Bauern als auch syrische Geflüchtete verkaufen ihre Produktivmittel wie etwa ihre Nutztiere.» Dabei seien diese häufig ihre Haupteinnahmequelle.

Der Lohn geht für die Schulden drauf

Wer nichts mehr verkaufen kann, verschuldet sich: bei Verwandten oder eben bei den Schawisch. Wenn diese etwa einen Laden im Camp betreiben, schreiben die Bewohner:innen an. Auch die Jahresmiete für das Zelt können viele nicht mehr bezahlen – und schieben die Zahlung auf.

Doch das löst ihr Problem nicht, im Gegenteil: Weil die Schawisch gleichzeitig als Arbeitsvermittler:innen fungieren, ziehen sie den Lohn gleich als Schuldenbegleichung ein. Meistens verpflichten sich die Bewohner:innen dazu, ein Jahr lang beim selben Bauern, bei derselben Bäuerin zu arbeiten, mit denen die Schawisch einen Vertrag abgeschlossen haben. Die Schawisch erhalten die Löhne meist kollektiv am Ende der Saison – weil aber nach Abzug der Kommission und der Schulden nichts mehr übrig bleibt, behalten sie das Geld einfach zurück. Ein Teufelskreis: Die Menschen sind verschuldet und können sich kaum noch das Essen leisten; sie erhalten keinen Lohn mehr – und sind dennoch gezwungen weiterzuarbeiten.

Die beiden Beamten haben sich verabschiedet. Amsche führt noch kurz durchs Lager, durch die engen Gassen zwischen den Zelten, von wo man in die Innenräume sehen kann. «Geh nach Hause, Ibn Chalil!», ruft sie einem Jungen in strengem Ton zu, bevor sie wieder Richtung Strasse führt. Obwohl sie zuvor so offen erzählt hat, scheint sie nicht zu wollen, dass die Bewohner:innen allein mit der Presse sprechen. Noch einmal macht sie klar: An ihr führt hier kein Weg vorbei.

Zurück nach Syrien?

Mitte Juli kündigte die libanesische Regierung an, zahlreiche syrische Geflüchtete zurückzuschicken. Auf Basis eines Abkommens mit dem syrischen Regime wollte sie monatlich bis zu 15 000 Menschen zur Rückkehr in ihre Heimat bewegen. Bisher blieben diese Zwangsrückführungen in grossem Stil allerdings aus.

Derweil halten die gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Syrien unvermindert an; willkürliche Festnahmen und Folter von Oppositionellen sind weiterhin an der Tagesordnung.