Sucht und Armut: Das volle Paket
Mehr Tote, mehr junge Süchtige, mehr Arme in St. Gallen – Einrichtungen für Menschen mit Suchterkrankungen schlagen Alarm. Was ist da los? Ein Besuch in der Gassenküche.
Am Sonntagnachmittag herrscht in der Gassenküche im St. Galler Linsebühlquartier Hochbetrieb. Die Tische sind gut besetzt, und vor der Theke hat sich eine Warteschlange gebildet. Der Grund: Ab 15 Uhr ist das, was vom Mittag übrig geblieben ist, gratis. Bis dahin kostet ein Mittagessen drei Franken.
Seit gut zwanzig Jahren befindet sich die St. Galler Gassenküche in einer ehemaligen Beiz im einstigen Rotlichtviertel. Die meisten der anwesenden Gäste kommen regelmässig in das holzgetäferte Lokal, das jeden Tag von 11 bis 17 Uhr geöffnet ist. In den Anfangsjahren gab es noch heftige Proteste aus der Nachbarschaft. Auch der Inhaber der Bäckerei direkt daneben beschwerte sich zuerst wegen des aus seiner Sicht geschäftsschädigenden Geläufs. Zwanzig Jahre später haben sich die Wogen geglättet. Überhaupt sei das Verhältnis zur Nachbarschaft «gut bis sehr gut», sagt Regine Rust, Geschäftsführerin der Stiftung Suchthilfe, in die die Gassenküche integriert ist. Es gebe gar Leute, die um die Gassenküche froh seien, da sie die Gentrifizierung verlangsame.
Die Folgen der Teuerung
Seit diesem September aber hat sich etwas geändert: Die Zahl der Gäste hat deutlich zugenommen. «Früher hatten wir am Schluss immer zu viel Salat übrig – heute ist meistens alles schon ab 13 Uhr weg», sagt Karin Müller*, selbst eine Klientin der Gassenküche, die seit sieben Jahren zweimal in der Woche in der Küche arbeitet und sich so etwas dazuverdient. Auch Früchte würden neuerdings bis auf den letzten Apfel mitgenommen. Insgesamt, so Regine Rust, besuchten rund neunzig Gäste regelmässig die Gassenküche – fünfzehn bis zwanzig Prozent mehr als in den Jahren zuvor. Tendenz steigend.
In der Gassenküche werden nun auch Früchte bis auf den letzten Apfel mitgenommen.
Das wirkt sich auf das Budget des ausschliesslich spendenfinanzierten Betriebs aus. Rust rechnet mit 50 000 bis 80 000 Franken, die zusätzlich zu den rund 300 000 Franken an jährlichen Spenden fürs kommende Jahr beschafft werden müssen. «Die Gassenküche ist ein Solidaritätsprojekt – und fühlt sich dadurch für Menschen, die sonst oft ausgegrenzt werden, anders an als ein von der öffentlichen Hand finanziertes Angebot», sagt Rust.
Drei Franken für ein Menü: An diesem Preis will die Gassenküche trotz der Teuerung auf jeden Fall festhalten. Ein Fixpunkt in einer bewegten Zeit. «Schon die Pandemie mit ihren komplizierten Regeln und Einschränkungen war für unsere Gäste sehr belastend», sagt Rust. Viele Kund:innen hätten sich in dieser Zeit noch mehr isoliert, der Drogenkonsum habe deutlich zugenommen.
Den Hauptgrund für die markante Publikumszunahme sieht Rust aber in der Teuerung: «Für Leute, die eh schon kaum genug Geld haben, um über die Runden zu kommen, ist auch ein kleiner Anstieg der Lebenshaltungskosten direkt spürbar.» Deshalb hilft die Stiftung besorgten Gästen auch, bei Vermieter:innen Gesuche um Erlasse bei den gestiegenen Nebenkosten zu stellen. Rust und ihre Mitarbeiter:innen haben auch immer ein Auge darauf, dass die Krankenkassenprämien pünktlich bezahlt werden. Ansonsten sei etwa die Aufnahme in ein Substitutionsprogramm kaum möglich, was sich bei Menschen mit Suchterkrankungen fatal auswirken könne.
St. Gallen ist kein Einzelfall
Auf dem Bildschirm in der Gassenküche läuft an diesem Sonntag das Fussball-WM-Spiel zwischen Belgien und Marokko. Kurz vor 16 Uhr: plötzliche Unruhe. Ein paar Gäste geraten sich kurz in die Haare, nachdem Marokko das 2:0 gegen Belgien erzielt hat. Eine kleine Unstimmigkeit – und schon kippt die gerade noch recht gemütliche Stimmung in eine Konfliktsituation.
Corona, der Krieg gegen die Ukraine, die Teuerung: Das gesellschaftliche Klima drückt auf die Stimmung der Gäste, die eh schon unter psychischen Belastungen leiden. Besonders alarmierend: «Dieses Jahr starben dreimal so viele Klient:innen wie in den Jahren zuvor», sagt Regine Rust. Es sind Menschen, die tot in der Wohnung gefunden werden, nachdem sie ein paar Tage nicht mehr aufgetaucht sind.
In letzter Zeit würden immer mehr Junge in der Gassenküche auftauchen, sagt Rust. Und: «Seit der Coronapandemie verzeichnen wir erstmals seit Jahren auch bei den Substitutionsprogrammen wieder eine Zunahme.»
St. Gallen ist kein Einzelfall. Florian Meyer, Abteilungsleiter Kontakt- und Anlaufstellen bei der Stadt Zürich, berichtet von ähnlichen Tendenzen: Auch in Zürich seien dieses Jahr deutlich mehr Klient:innen verstorben (24 gegenüber 6 bis 8 in den Vorjahren). Zudem seien auch in Zürich eine starke Zunahme des Konsums von Kokain, mehrheitlich als Crack, ein erhöhter Mischkonsum sowie eine deutliche Publikumszunahme in den entsprechenden Einrichtungen zu beobachten. Inwieweit all das mit Nachwirkungen der Coronamassnahmen zu tun habe, lasse sich bislang aber nicht klar beantworten. Auch Jonas Wenger, stellvertretender Generalsekretär des Fachverbands Sucht, ist diesbezüglich zurückhaltend. Was er aber sagen könne: «Bei vielen Menschen mit bereits bestehender Suchterkrankung verschärfte sich die Problematik.»
Auch in St. Gallen zeige sich gerade bei den Jungen ein ausgeprägter Mischkonsum, bestätigt Regine Rust. Neben Heroin und vor allem Kokain, das in dieser Stadt seit Jahren ein «grosses Thema» sei (wobei die Jungen eher schnupfen und die älteren eher rauchen), würden zunehmend Opioide in Tablettenform sowie Benzodiazepine konsumiert. «Das volle Paket», sagt Rust, die seit dreissig Jahren in der Suchtarbeit tätig ist. Auch LSD sei zunehmend ein Thema.
Rust hat eine Erklärung für das aktuelle Suchtphänomen. Sie spricht von einer «Subito-Kultur», die sich ausbreite: einem Drang nach Selbstoptimierung, um auf Knopfdruck leistungsfähig zu sein und dann wieder subito runterzukommen. Den Auslöser sieht Rust in einem breiten, gar nicht so genau fassbaren gesellschaftlichen Druck, den die junge Generation besonders ausgeprägt verspüre. Hinzu komme die Zunahme stoffungebundenen Suchtverhaltens etwa in Form von Social Media oder Onlinegeldspielen. Jonas Wenger vom Fachverband Sucht bestätigt das. Als Beispiel nennt er Online-Geldspiele, die gerade für Menschen mit erhöhter Suchtgefährdung höchst riskant seien. Umso bedenklicher sei die Werbeoffensive, die Online-Casinos auf Kosten besonders verletzlicher Personen gestartet haben. «Daneben sind vermehrt auch aggressive In-Game-Käufe (Mikrotransaktionen) zu beobachten, die zu einer gefährlichen Vermischung von Gambeln und Gamen führen.» Suchtgefährdete Menschen, darunter auch Jugendliche, würden dabei bewusst angefixt – «ein Milliardengeschäft der übelsten kapitalistischen Perversion».**
Neuzugänge vom Land
Auch am Dienstagnachmittag, bei einem zweiten Besuch, ist Hochbetrieb in der St. Galler Gassenküche. «Schweinehals-Braten, Kartoffeln, Gemüse und Salat» steht auf der Wandtafel. Wieder begegnet man vielen langjährigen Stammgästen, und zwar fast nur Männern. Draussen vor der Tür oder am einen oder anderen Tisch sind auch neue und jüngere Gesichter zu sehen. Ein jüngerer Mann erzählt, dass er kürzlich aus dem Thurgau nach St. Gallen gezogen sei, nachdem die Gemeinde, in der er wohnte, ihm das Sozialhilfegeld halbiert habe. Eine Frau wiederum, die Einblick in ihre von häuslicher Gewalt, harten Drogen und Mobbing geprägte Lebensgeschichte gewährt, ist aus einer ländlichen Gemeinde in die Kantonshauptstadt gezogen, wo sie versucht, so gut wie möglich Fuss zu fassen.
Doch auch an diesem Tag sind nur sehr wenig Frauen anwesend. Über die Gründe lasse sich nur spekulieren, sagt Rust. «Aus Erfahrung weiss man aber, dass Sucht bei Frauen oft im Verborgenen stattfindet und Bedürftigkeit aus Scham weniger gezeigt wird. Auch traumatisierende Erfahrungen tragen oft dazu bei, dass Frauen sich eher zurückziehen.» Hilfe erhalten sie bei einem anderen niederschwelligen Angebot der Stiftung: in der Fachstelle für aufsuchende Sozialarbeit (Fasa), wo der Frauenanteil, so Rust, weitaus höher sei.
Draussen hat es inzwischen zu regnen begonnen. Ein junger Gast betritt das Lokal und bringt einem Kollegen eine Büchse Bier mit. Eine kleine Geste der Solidarität. Wie aber steht es mit der gegenseitigen Unterstützung auf der Gasse? Die Meinungen gehen auseinander. «Der Zusammenhalt ist in den letzten Jahren schlechter geworden», sagt ein erfahrener Heroinkonsument. Ein weiterer Kenner der Szene widerspricht entschieden: Eigentlich sei alles wie immer.
Kurz vor drei bildet sich auch an diesem Tag eine Warteschlange vor der Theke. Drei Salatteller sind noch zu haben. Und Guetsli.
* Name von der Redaktion geändert.
** Korrigenda vom 2. Dezember 2022: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion wurden die Aussagen von Jonas Wenger verkürzt wiedergegeben.