Geldspielgesetz: «Die Suchtgefahr bei Onlinegeldspielen ist bis zu sieben Mal höher»
Der Abstimmungskampf um das neue Geldspielgesetz wird von beiden Seiten heftig geführt. Kaum ein Thema aber war die Spielsucht. Petra Baumberger vom Fachverband Sucht geht mit beiden Seiten hart ins Gericht.
WOZ: Frau Baumberger, im Abstimmungskampf behaupten sowohl das befürwortende wie auch das gegnerische Lager, es gehe ihnen fundamental um den Schutz der Spieler und Spielerinnen. Wem soll ich glauben?
Petra Baumberger: Keinem von beiden. Ein wirksamer Spielerschutz steht weder bei den Befürwortern noch bei den Gegnern im Vordergrund.
Beginnen wir mit den Befürwortern: Was kritisieren Sie am neuen Geldspielgesetz bezüglich Spielerschutz?
Ich bedaure vor allem zwei Punkte. Erstens ist nicht genau definiert, welche Kriterien und Standards erfüllt sein müssen, damit ein neues Onlinegeldspiel für den Markt zugelassen wird. Das ist die wichtigste Schraube, an der wir drehen können, wenn es um die Verhinderung von Geldspielsucht geht. Heute ist dieser Bereich eine Blackbox, wir haben noch keine Ahnung, wie die Zulassung genau erfolgen soll. Das Tempo der technologischen Entwicklung ist rasant. Gerade der Bereich neuer Onlinegeldspiele ist sehr dynamisch, und es gibt viel zu wenig Grundlagenforschung. Deshalb haben wir – leider erfolglos – eine unabhängige beratende Expertenkommission verlangt, die diese Entwicklung verfolgt und einschätzt, wo neue Spielsuchtgefahren entstehen und welche das sind.
Und zweitens?
Für die Casinos, die hauptsächlichen Verursacher von Geldspielsucht, besteht keine verpflichtende Präventionsabgabe. Dies im Gegensatz zu den Lotterie- und Wettspielanbietern, die den Kantonen 0,5 Prozent ihrer Bruttoeinnahmen für die Prävention zur Verfügung stellen. Das entspricht im Moment rund fünf Millionen Franken. Der Präventionsbedarf im Geldspielbereich liegt nach Schätzungen unserer Suchtfachorganisationen bei zwanzig Millionen Franken.
Wir kommen noch auf die Prävention zurück. Aber sagen Sie uns zunächst, weshalb Sie den Gegnern des Geldspielgesetzes nicht trauen? Das Referendumskomitee befürwortet im offiziellen Abstimmungsbüchlein genau die Punkte, die Sie im Gesetz vermissen: eine Präventionsabgabe und eine beratende Fachkommission.
Die beiden Punkte hat das Referendumskomitee aus unseren Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf entnommen. Aber es hat im Vorfeld dazu nie den Austausch mit uns gesucht. Einzig die Jungen Grünliberalen haben einmal den Kontakt mit uns aufgenommen. Offensichtlich besteht kein vertieftes Interesse an unseren Überlegungen.
Für die Gegner und Gegnerinnen des Gesetzes steht offensichtlich das freie Internet im Zentrum, nicht die Verbesserung von Prävention und Spielerschutz. Wir befürchten deshalb, dass die Annahme des Referendums zu einem Gesetz führt, das der Prävention und dem Spielerschutz noch weniger Rechnung trägt. Gerade auch angesichts der aktuellen Mehrheitsverhältnisse im Parlament.
Was empfehlen Sie also? Stimmfreigabe?
Wir haben uns sehr schwergetan mit einer Empfehlung, aber letztlich rangen wir uns zu einem Ja durch. Dazu muss man wissen: Das neue Gesetz bringt gegenüber dem geltenden Gesetz deutliche Verbesserungen. So wird neu die Spielsucht als Krankheit anerkannt. Das ist für die Betroffenen ein wichtiges Signal und erleichtert die Übernahme der Therapiekosten durch die Versicherer. Es verpflichtet zudem die Kantone, Angebote zur Prävention und Behandlung von Spielsucht bereitzustellen, und schafft neu die Möglichkeit, die Spielsperren von Casinos auf Lotteriespiele auszudehnen, die als sehr risikoreich beurteilt werden.
Ab wann gilt eigentlich jemand als spielsüchtig?
Der Übergang von einem risikoreichen, exzessiven Konsum zu einer Sucht ist fliessend. Das trifft auf das Geldspiel ebenso zu wie auf jede andere Sucht. Die Merkmale einer Spielsucht sind dann der starke Drang oder der Zwang, wieder zu spielen, der Kontrollverlust während des Spiels selbst, etwa was die Spieldauer oder die Spieleinsätze betrifft, die Unfähigkeit, während einer längeren Phase abstinent zu bleiben, und der Rückzug aus dem Sozialleben, der oft verbunden ist mit Lügen, was das Spielverhalten betrifft.
Und wie ist das Ausmass der Spielsucht in der Schweiz? Gibt es dazu Zahlen?
Wir schätzen, dass es bis zu 120 000 Personen gibt, die spielsüchtig sind. Drei Viertel davon weisen ein problematisches Verhalten auf, ein Viertel ein pathologisches. Das sind dann die wirklich schwierigen Fälle, weil die Sucht oft nicht nur für die Spieler und Spielerinnen selbst, sondern auch für deren Umfeld dauerhafte negative Auswirkungen hat, etwa in Form von Schulden, Arbeitsplatzverlust, eines sozialen Rückzugs und oft auch von familiären Konflikten. Die Kosten der Spielsucht für die Allgemeinheit beziffern wir auf etwa 600 Millionen Franken. Dieser Betrag umfasst nicht nur die direkten Kosten, also die Therapiekosten, sondern auch die indirekten, das heisst die gesamtgesellschaftlichen Kosten. Diese entstehen zum Beispiel in Zusammenhang mit einer Schuldensanierung oder einer Arbeitslosigkeit und späteren beruflichen Reintegration.
Welche Geldspielbranche – Lotterie, Wetten oder Casinos – ist bezüglich Suchtgefahr eigentlich die problematischste? Oder ist eine ganz andere Trennlinie entscheidender: offline und online?
Es gibt verschiedene Elemente, die ein Geldspiel gefährlicher machen können als andere. Dazu gehören zum Beispiel die Höhe des möglichen Spieleinsatzes und die Frequenz, mit der ein neues Spiel gestartet werden kann, oder auch die Begleitung des Spiels mit Tönen. Es liegt deshalb auf der Hand, dass von den Casinospielen die grössere Gefahr ausgeht als vom Lottospiel am Kiosk. Die weitaus grösste Gefahr bilden aber die Onlinegeldspiele. Erste Untersuchungen gehen davon aus, dass die Gefahr, spielsüchtig zu werden, bei Onlinegeldspielen fünf bis sieben Mal höher ist als bei terrestrischen Spielen. Das ist vor allem deshalb problematisch, weil insbesondere Jugendliche eine hohe Affinität zu Geldspielen haben.
Wie sähe ein wirksamer Spielerschutz aus?
Wir brauchen geeignete Rahmenbedingungen. Hier weist das neue Gesetz grosse Lücken auf und es verlagert die Verantwortung zu stark auf das spielende Individuum. Alle Spieler und Spielerinnen müssen in hinreichendem Masse über die Suchtgefahr bei Geldspielen aufgeklärt werden und wissen, welche Risiken sie beim Spielen eingehen und wohin sie sich bei Bedarf wenden können. Diese Aufklärung ist zentral – sie funktioniert bereits jetzt relativ gut. Problematischer und kostenintensiver ist der Spielsuchtbereich. Dort ist es wichtig, dass wir ein problematisches Spielverhalten so früh wie möglich entdecken und eingreifen können – bestenfalls, bevor jemand in eine Sucht rutscht, Schulden angehäuft sind und das Umfeld darunter leidet. Hier stehen die Anbieter von Geldspielen in der Pflicht, diese Arbeit müssen sie leisten. Doch es besteht ein Interessenkonflikt zwischen dem Schutz der Spielerinnen und Spieler und den wirtschaftlichen Eigeninteressen der Anbieter. Es ist kein Geheimnis, dass die exzessiven Spielerinnen und Spieler für sie wichtige Einnahmequellen sind.