Erwachet!: Krimi im Goetheanum
Michelle Steinbeck über einen Jahrhundertbrand
Das Jahr neigt sich dem Ende zu, Zeit für Feuerwerk. In Dornach werden zu diesem Silvester besonders flammende Erinnerungen geweckt: Vor hundert Jahren brannte das erste Goetheanum, Rudolf Steiners hölzerner Kuppelbau, bis auf die Grundmauern nieder. Das Feuer wütete die ganze Nacht, der rote Schein war bis nach Basel zu sehen. Das Zentrum der Anthroposophie wurde Opfer von «Kritik und Gegnerschaft», die «in der Brandstiftung des ersten Goetheanum gipfelte». So steht es jedenfalls im Beschrieb der Brand-Tagung, die zum Jahresende im Betonbau des «neuen» Goetheanums in Dornach stattfinden wird. Leider wurde ich nicht eingeladen, sonst hätte ich einen feurigen Vortrag halten können. «Hundert Jahre Brandstiftungsmythos» oder «Ein Säkulum lang der Sündenbock – Rehabilitiert Uhrmacher Ott!»
Aber von vorn: Vor einiger Zeit recherchierte ich für ein Theaterstück den Fall des besagten Grossbrands. Während das Goetheanum auf Anfragen mit Schweigen reagierte, übergab mir der Leiter des Staatsarchivs Solothurn nach kurzer Temperaturmessung eine meterdicke Akte, die ich in den folgenden Monaten fieberhaft studierte und sortierte: zeitgenössisches Pressematerial, Polizei- und Feuerwehrberichte, Protokolle von Zeug:innenbefragungen, anonyme Briefe mit Schuldzuweisungen. Bilder von schwelenden Gebäuderesten, von Hand eingezeichnete Pfeile: «Fundstelle von Fingerknöchel». Passfotos vom jungen Uhrmacher Ott, Röntgenaufnahmen von seinem verkohlten Oberschenkelknochen.
Unverhofft ging hier ein Kriminalfall vor mir auf, der nicht nur ungelöst, sondern auch schaurig-spektakulär war. Nicht nur, weil unter den Trümmern ein grausiger Fund von menschlichen Überresten gemacht wurde. Das Schockierende war vielmehr, Einblick in die Ermittlungsarbeit zu bekommen. Angeführt wurde diese, im Fall des Brands sowie im Fall des Todesopfers, von keinem Geringeren als Rudolf Steiner selbst. Als Hellseher wusste er schliesslich genau, was passiert war. Seine Erkenntnisse von höheren Welten tat er in Pressemitteilungen, Reden und Interviews kund: Das Goetheanum sei von einem Feind der Anthroposophie angezündet worden – als Beweis galt ein zerbrochener Spiegel –, verdächtig sei jener seit der Silvesternacht vermisste Jakob Ott. Die Behörden folgten ohne Weiteres mit einer Anklage wegen vorsätzlicher Brandstiftung und erliessen einen Haftbefehl gegen den 28-jährigen Uhrmacher – der im Übrigen ein wasserdichtes Alibi hatte. Als Dornacher, der vor nicht allzu langer Zeit zu den unbeliebten Anthroposophen «übergelaufen» war, gab er den perfekten Sündenbock: Sie misstrauten ihm auf allen Seiten. Als seine Leiche am Brandort entdeckt wurde, war zwar die Behauptung, er sei ins Ausland geflüchtet, einigermassen entkräftet. Anstatt jedoch anzuerkennen, dass er als freiwilliger Helfer beim Versuch, den Brand zu löschen, im Feuer gestorben war, wurde weitgehend am Täternarrativ festgehalten. (Mittlerweile sprechen sich einzelne Anthroposoph:innen für Ott aus.)
Was wirklich passiert ist, wissen nur Hellsichtige. Als Autorin hatte ich immerhin die Freiheit, verschiedene Ansätze fiktiv durchzuspinnen: So könnte es gewesen sein, oder so? Sicher ist: Der von der anthroposophischen Gesellschaft bis heute proklamierte Fakt der «Brandstiftung von aussen» ist auch nicht mehr als Theater.
Michelle Steinbeck ist Hobbydetektivin wie Rudolf Steiner. Das Hörstück «Der zerbrochene Spiegel» wird über Weihnachten auf Radio X ausgestrahlt und ist ab Silvester auf der Website des Neuen Theaters Dornach zugänglich.